«Ich mag Carlsens Stil nicht sehr, aber er spielt erfrischend»

Mit 15 Jahren war Judit Polgár jüngster Schach-Grossmeister, und seit 25 Jahren führt die Ungarin die Weltrangliste ihres Geschlechts unangefochten an. Weil sie lieber Männer am Brett herausfordert, pfeift sie auf die Titel bei den Frauen.

Judit Polgár: «Man muss seine Motivation hochhalten, wenn sich die ganze Welt um einen herum verändert.» (Bild: Nagyapáti István)

Mit 15 Jahren war Judit Polgár jüngster Schach-Grossmeister, und seit 25 Jahren führt die Ungarin die Weltrangliste ihres Geschlechts unangefochten an. Weil sie lieber Männer am Brett herausfordert, pfeift sie auf die Titel bei den Frauen.

Ein Vierteljahrhundert an der Spitze? Im Sport ist das eigentlich ­undenkbar. Die Ungarin Judit Polgár aber führt die Weltrangliste der Schachspielerinnen seit Januar 1989 ununterbrochen an, und das lange Zeit mit ­einem Vorsprung von mehr als 100 Elo-Punkten, der Masseinheit im Schach.

Die erst 37-jährige Budapesterin, Mutter zweier Kinder, hat keine Konkurrenz zu fürchten, und die ­österreichische Grossmeisterin Eva Moser traut Polgár zu, «weitere zehn Jahre» zu dominieren. Judit Polgár sich selbst übrigens auch.

Judit Polgár, seit 25 Jahren sind Sie Weltranglistenerste. Der neue Weltmeister Magnus Carlsen war noch gar nicht geboren, als Ihre Karriere begann. Irritiert Sie dieser Gedanke?

Mir kam das schon vor Jahren in den Sinn, dass ich schon zweimal die Olympiade mit meinen Schwestern gewonnen hatte, bevor Magnus auf die Welt kam. Es ist offensichtlich: Die neue Generation steht bereits an der Spitze. Ich bin aber glücklich, mich noch gelegentlich mit den besten Spielern messen zu können. Dabei verdiene ich mir hie und da Respekt, etwa 2011 in Aix-les-Bains bei der Europameisterschaft (sie gewann Bronze; Anm. der Red.).

Empfinden Sie es als merkwürdig, dass Sie die Weltrangliste der Frauen seit Urzeiten anführen, obwohl Sie die Frauen-Wettbewerbe meiden?

Ich habe nur drei Wettbewerbe gespielt: Die U16-WM der Mädchen 1986 (mit zehn Jahren holte sie Bronze; Anm. der Red.) und zweimal die Schach-Olympiade 1988 und 1990. Ich habe Schach stets als einen Sport für alle, unabhängig vom Geschlecht, betrachtet. Deshalb bestand mein Ziel stets darin, einfach besser zu werden im Schach. Das ist der Grund, warum ich solch einen riesigen Rating-Vorsprung errang. Und wegen des enormen Grabens zwischen mir und den anderen kann ich weiter die Nummer 1 bleiben.

Nagt es an Ihnen, niemals ­Weltmeister geworden zu sein, obwohl Sie auch in den Top Ten der Männer standen?

Ich war wirklich glücklich darüber, als ich es in die Top Ten schaffte. 2003, in meinem besten Jahr, fühlte ich mich sehr stark. Ich spielte auf Top-Niveau und war zum Beispiel in der Lage, in Wijk aan Zee mit Viswanathan Anand um den ersten Platz zu kämpfen. Was den WM-Titel angeht: Nein, ich bin nicht unglücklich darüber, nie Weltmeister geworden zu sein.

Hätten Sie an den für Sie «langweiligen» Frauen-Turnieren mitgemischt, könnten Sie auch Weltmeisterin sein.

Mir ging es wirklich immer nur darum, mein Schach zu verbessern.

Welchen Grund sehen Sie, dass Frauen beim Schach deutlich schlechter sind als Männer? Fehlt ihnen der Ehrgeiz oder die Passion?

Nein, meiner Ansicht nach glauben sie nicht daran, dass sie es schaffen können.

Wie lange trauen Sie sich noch zu, die Nummer 1 der Frauen zu sein?

Wenn ich weiterspiele und an mehr Turnieren teilnehme, sehe ich gute Chancen für einige zusätzliche Jahre. Ich hoffe aber, dass andere Mädchen kommen und absoluter Weltmeister werden wollen – und sich nicht nur den Frauen-Titel als Ziel stecken.

Hou Yifan ist gerade 20 Jahre alt geworden und schon Weltmeisterin. In der Weltrangliste kommt die Chinesin Ihnen am nächsten. Wäre Hou eine Herausforderung für Sie?

Sie ist eine sehr gute Spielerin und feierte bereits einige Erfolge gegen sehr starke Gegner. Ich glaube aber, wenn ich mich gut vorbereite, würde ich überzeugend gewinnen.

Kommt für Sie ein Duell gegen Ihre Schwestern, an dem sicher grosses Interesse bestünde, in Betracht?

Das ist etwas, was ich gar nicht machen möchte. Wenn wir gemeinsam Turniere spielten, vereinbarten wir fast immer Unentschieden.

Und wie sieht es mit einem ­Revival der Polgár-Schwestern in einer Mannschaft aus?

Der Gedanke scheint mir für viele Jahre nicht sonderlich realistisch.

Ihre Schwester Susan, die bereits Weltmeisterin war, ist als Kommentatorin und im US-Schach sehr aktiv und steht noch immer im Fokus. Was macht die mittlere der Polgár-Schwestern, die 39-jährige Sofia?

Sofia ist ein sehr künstlerischer, fröhlicher Mensch. Sie studierte Kunst und Innenarchitektur. In den vergangenen vier Jahren engagierte sie sich fürs Kinderschach. Sie ist eingebunden in verschiedene Programme für den Nachwuchs wie etwa das Buch «ChessPlayground».

Trainieren Sie selbst noch viel oder konzentrieren Sie sich auf die Erziehung Ihrer Kinder?

Ich verfolge natürlich die wichtigen Wettbewerbe und habe Phasen, in ­denen ich regelmässig trainiere. So will ich nach der Europameisterschaft in Armenien im August die Schach-Olympiade für Ungarn spielen. Ich stecke aber auch viel Zeit in andere Aktivitäten, die mit Schach zusammenhängen.

Ihr Kinder-Schachprojekt in ­Ungarn zum Beispiel?

Vor zwei Jahren habe ich eine Stiftung gegründet, die es in kurzer Zeit schaffte, Schach ins nationale Bildungsprogramm und in den Grundschul-Lehrplan aufzunehmen. Wir haben ein komplettes Programm ausgearbeitet, um die Kinder durch Schach in vielen Bereichen wie etwa Mathematik zu fördern. Ausserdem arbeite ich momentan am dritten Band meiner Serie «Judit Polgár lehrt Schach». Der erste Teil «How I Beat Fischer’s Record» erscheint dieses Jahr auch in deutscher Sprache. Zudem organisieren wir zum achten Mal ein Schach-Festival, bei dem wir Leuten zeigen, wie interessant Schach sein kann in Verbindung mit Kunst, Musik, Entwicklung der Fähigkeiten, Kunsthandwerk und so weiter.

Haben Sie Ihren beiden Kindern das Schachspielen eigentlich auch nach den Methoden Ihres Vaters, des Pädagogen Laszlo Polgár, beigebracht?

Sie kennen die Regeln und spielen ab und zu. Aber sie machen allerlei und haben sich nicht auf Schach konzentriert.

Was ist wichtiger im Schach: ­Arbeit oder Talent?

Arbeit! Aber Talent hilft sehr viel (lacht).

Sie brachen Bobby Fischers Rekord als jüngster Grossmeister aller Zeiten mit fünfzehneinhalb Jahren. Der Russe Sergei Karjakin und Magnus Carlsen blieben sogar unter Ihrer Bestmarke mit 12 Jahren und sieben Monaten beziehungsweise 13 Jahren und drei Monaten. Wer von den beiden ist das grössere Talent?

Ich behaupte Carlsen – aber nicht, weil er mit 13 Jahren Grossmeister wurde. Das hätte ich leicht auch ­unterbieten können.

Sondern?

Magnus spielt wirklich erfrischend. Die Schach-Engines suggerieren doch, dass alles mit ganz konkreten Varianten ausanalysiert ist. Es sieht so aus, als gehe er ans Brett, ignoriere die Existenz des Computers – und gewinnt trotzdem. Er erkennt Nuancen ganz besonders. Aber seine grösste Stärke ist, dass er mit enormer Begeisterung Stellungen spielt, die andere Grossmeister schon längst als Remis abgehakt haben. Er liebt das Spiel und geniesst es, bis zu den zwei nackten Königen zu spielen.

Der Erfolg gibt ihm recht.

Natürlich mag er das auch so, weil er so erfolgreich damit ist. Magnus ist wirklich sehr beeindruckend. Ich mag seinen Stil zwar nicht übermäs­sig – aber sein Können und seine ­professionelle Einstellung sind bewundernswert. Ich bewundere ­Magnus dafür, wie er solche äusserst remisträchtigen Endspiele noch gewinnen kann.

Wenn Sie je Ihre Nummer-1-Position einbüssen, spielen Sie dann bei Frauen-Wettbewerben mit?

Warum soll ich jetzt darüber nachdenken? Vorerst verteidige ich den Platz, und ich bin sehr stolz darauf, dass es niemand gibt, der meine ­Position wirklich bedroht – obwohl ich inzwischen so viele andere Aktivitäten pflege abseits des Spitzenschachs. Um so lange vorne zu bleiben, ist Talent nicht genug. Man muss seine Motivation hochhalten, wenn sich das Leben und die ganze Welt um einen herum verändern. Deine Prioritäten verschieben sich dermas­sen im Vergleich zu dem einst furchtlosen Mädchen mit zwölf Jahren, das vor niemandem am Brett Angst hatte.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 14.03.14

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