Deutschland–Italien, das ist für die Kinder der einst als Gastarbeiter aus dem Süden eingewanderten Italiener immer auch ein innerer Konflikt. Und manchmal einer mit den eigenen Eltern.
Deutschland gegen Italien – das ist für Carmelo Policicchio auch die Geschichte von Vater und Sohn. Sein Vater, ein Schweisser, kam als einer der ersten sogenannten Gastarbeiter nach Deutschland, lebte zunächst im Saarland, heiratete eine deutsche Frau und gründete in Hausach im Kinzigtal, zwischen Freiburg und Offenburg gelegen, eine Familie.
Mein Vater war Mitte der fünfziger Jahre nach Deutschland gekommen. Als Siebzehnjähriger war er in Kalabrien in den Zug gestiegen, und auf der Suche nach Arbeit erst in Norditalien, dann im Saarland gelandet, ehe es in aus Liebe zu meiner Mutter in den Schwarzwald verschlug. Dort bin ich aufgewachsen, zwischen grünen Wiesen und blauen Bergen (war wirklich so).
In der Erinnerung an meine Jugend und Kindheit nimmt der Fussball jede Menge Platz ein. Wir haben gekickt, immer und überall. Mit 10 Jahren im Sportverein, in der D-Jugend, zweimal Training in der Woche, samstagmittags Spiel, abends Sportschau, am Sonntag ab auf den Sportplatz, die Erste anschauen.
Mein Vater hat sich schnell, wie man heute so schön sagt, integriert, zumindest was Sprache und Umgang mit den Menschen anging.
Und doch ist er immer ein Italiener geblieben.
Es tat ihm weh, dass seine Kinder nur Deutsch sprachen, hier verwurzelt waren und mit seiner Heimat nicht allzu viel anfangen konnten. Meine Geschwister und ich hatten deutsche Freunde, sprachen nur ein paar Brocken italienisch, wir lebten in einer anderen Welt als unser Vater. Alle paar Jahre mal fuhr die gesamte Familie nach Italien, in seinen Heimatort. Eine halbe Weltreise war das immer, in ein exotisches, für uns zwar irgendwie spannendes aber doch fremdes Land, und wir Kinder waren immer wieder froh, wenn es nach Hause ging.
Nach italienischen Triumphen stand mein Vater über jenen, für die er malochte
Fussball interessierte meinen Vater nie besonders. Nur wenn irgendwann eine italienische Mannschaft im Fernsehen kam, zeigte er Interesse. Vor allem im Duell mit den deutschen Teams konnte er seine Freude nach italienischen Triumphen nie verbergen. Dann stand der Gastarbeiter, wenn auch nur im Fussball, über denen, für die er malochte.
So kam jener Tag im Sommer 1970, die Weltmeisterschaft in Mexiko, Deutschland gegen Italien, das legendäre Jahrhundertspiel. Wir sassen im Wohnzimmer, mein Vater schweigend, mich aus den Augenwinkeln beobachtend, ich aufgeregt, kleiner Junge der ich war, nicht wissend, wem ich die Daumen drücken sollte.
Auf der eine Seite meine damaligen Helden der Bundesliga Sepp Maier, Gerd Müller, Franz Beckenbauer, Uwe Seeler. Auf der anderen ein Team, dass ich nur aus den Erzählungen meines Vaters kannte, dass aber ja meine Nationalmannschaft war. Denn damals konnte ich zwar kein Italienisch, hatte aber, obwohl ich in Deutschland geboren war, keinen deutschen, sondern tatsächlich nur einen italienischen Pass. Riva, Facchetti, Mazzola, Riviera, die Namen der italienischen Stars waren mir zwar geläufig, identifizieren konnte ich mich aber nicht mit ihnen. Ich war in einer furchtbaren Lage.
Ich traute mich nicht, für Deutschland zu schreien
Das ganze Spiel über traute ich mich nicht für Deutschland zu schreien, aus Angst damit so eine Art Vaterlandsverrat zu begehen. Als Italien in Führung ging, habe ich gejubelt; meinem Vater war die Heuchelei sofort klar und als dann Karl-Heinz Schnellinger in buchstäblich letzter Sekunde den Ausgleich erzielte und jene legendäre Verlängerung erzwang, da gab es für mich kein Halten mehr und ich schrie meine Freude heraus. Mein Vater schaute mich an, und seinem Blick lag das Wissen, dass sein Sohn immer mehr ein Deutscher, denn ein Italiener sein würde. Er stand auf und ging hinaus, wortlos.
Wir haben danach nie mehr viel über Fussball geredet, wie wir überhaupt nie viel miteinander geredet haben. Unsere Entfremdung hatte vielleicht schon früh angefangen, aber spätestens in meinen Teenagerjahren war unser gegenseitiges Verständnis bei Null angekommen
Zwölf Jahre später sass ich wieder vor der Glotze, wieder lief Deutschland gegen Italien, diesmal das WM-Endspiel in Spanien. Mein Vater war zwei Jahre vorher gestorben, Herzinfarkt mit 44 Jahren, wahrscheinlich eine Folge seiner zwei Päckchen Zigaretten am Tag. Vielleicht hatte ihn aber auch das Heimweh umgebracht. Er hatte Jahre zuvor sein Elternhaus gekauft, wollte es umbauen und zurückgehen, obwohl er wusste, dass die Familie Deutschland nicht verlassen würde.
Diesmal wusste ich, dass ich nicht Partei für Deutschland ergreifen würde
Meine Freunde schauten sich das Endspiel in der Kneipe an, ich sass allein in meinem Zimmer. Vielleicht weil ich wusste, dass ich dieses Mal nicht Partei für Deutschland ergreifen würde. Natürlich kannte ich auch 1982 die deutschen Spieler besser, Rummenige, die Förster Brüder, Littbarski, Breitner. Auf der anderen Seite waren aber Rossi, Tardelli, Zoff, oder Gentile nicht mehr die völlig unbekannten Spieler für mich. Im Gegenteil, ich kannte jeden einzelnen italienischen Spieler.
Ich dachte daran, ob es meinem Vater wohl gefallen hätte, dass ich nun zur Squadra Azzuri hielt, dachte an all die Jahre, an denen wir aneinander vorbei gelebt hatten und der Schmerz über seine und meine Unfähigkeit miteinander zu kommunizieren schoss einmal mehr in mir hoch, während in Madrid die italienische Nationalmannschaft die deutsche an die Wand spielte.
Als Italien das 2:0 schoss, die Vorentscheidung besorgte, riss ich das Fenster auf, brüllte so laut, dass man es im ganzen Städtchen hörte, TOOOOOOOOR und ich glaube in meinem Gesicht war derselbe Wahnsinn, mit dem der Torschütze Marco Tardelli danach über den Rasen des Santiago Bernabeu fegte.
Heute freue ich mich auf jede Welt- und Europameisterschaft, die Nationalmannschaftsspiele berühren mich als Fan allerdings kaum noch, da zählt nur der Verein. Aber damals im Sommer 1982, da war ich Weltmeister, zusammen mit meinem Vater.
Carmelo «Chico» Policicchio, Jahrgang 1959, lebt seit 1993 in Freiburg im Breisgau und betreibt dort die Bier-, Fussball- und Musikkneipe «Swamp». Fussballerisch sozialisiert wurde der einstige Bayern-Fan durch den Aufstieg des SC Freiburg unter Volker Finke. Er schreibt für den «Sonntag» in Freiburg Musikkritiken, für «11 Freunde», und im Stadionmagazin «Heimspiel» des SC Freiburg erschien mehrere Jahre seine Kolumne «Worte kommen meist zu spät», deren Sammlung nun bei Amici, Agentur für Medienpräsenz, erschienen ist.