In Ruhpolding hat jeder einen Schuss

Die Weltmeisterschaft der Biathleten im bayrischen Ruhpolding ist ein Riesen-Spektakel. Der Ort ist völlig auf den Sport eingestellt, die Fans feiern bis zum Umfallen – und über allem trohnt die scheidende Biathlon-Queen Magdalena Neuner. Eine Augenscheinnahme.

Volkfeststimmung im bayrischen Chiemgau. (Bild: Reuters)

Die Weltmeisterschaft der Biathleten im bayrischen Ruhpolding ist ein Riesen-Spektakel. Der Ort ist völlig auf den Sport eingestellt, die Fans feiern bis zum Umfallen – und über allem trohnt die scheidende Biathlon-Queen Magdalena Neuner. Eine Augenscheinnahme.

Es gibt kein Entrinnen. Ob man nun will, oder nicht. Früher oder später läuft man in Ruhpolding immer Magdalena Neuner über den Weg – meist eher früher. Sie lacht von riesigen Plakaten, ihr Gesicht ziert Schaufenster und die Titelseiten der deutschen Zeitungen, Fans haben sich ihren Namen auf die schwarz-rot-goldenen Fahnen geheftet, ja: Magdalena Neuner bringt um diese Jahreszeit sogar die oberbayrischen Bäume zum Blühen. Die Kinder der Grund- und Mittelschule Ruhpolding haben eigens für die Biathlon-Weltmeisterschaft die kargen Stämme im Ortszentrum mit bunten Zeichnungen verschönert.

Und natürlich dreht sich auch bei der «Aktion Bilderbaum» fast alles nur um die Lena der Nation, wie die 25-jährige Biathletin bereits genannt wird. Lena hier, Neuner dort –  man könnte beinahe den Eindruck bekommen, diese WM in Ruhpolding wäre einzige und allein für SIE gemacht. Für Magdalena Neuner, die beste Biathletin der Gegenwart, die mit Saisonende die Flinte in den Schnee wirft und jetzt bei der WM noch ein letztes Mal die Massen begeistern darf und soll.

Das ist ihr Auftrag, das ist auch ihr persönlicher Ansporn. «Ich will in jedem Wettbewerb eine Medaille holen», hatte Neuner vor den Titelkämpfen angekündigt. Gesagt, getan, geschossen – zur Halbzeit der WM hat die 25-Jährige ihren ersten Medaillensatz bereits sicher. Gold im Sprint, Silber in der Verfolgung, Bronze mit der Mixed-Staffel, am Donnerstag macht sie im Einzel Jagd auf das nächste Edelmetall.

Die liebenswürdige Frau Neuner

Es ist bewundertswert, wie Magdalena Neuner mit dieser ihrer Rolle umgeht. Da ist keine Spur von Nervosität angesichts der enormen Erwartungshaltung, da gibt es keinen Anflug von Arroganz, keine Anzeichen von Starallüren. Rund um die WM in Ruhpolding präsentiert sich Magdalena Neuner so wie sie alle kennen und lieben – liebenswürdig und sympathisch. Geduldig schreibt sie auf dem Weg in die Chiemgau-Arena Autogramme, freundlich erfüllt sie Interview-Wünsche und posiert für Schnappschüsse mit ihren Fans.

Spätestens wer Magdalena Neuner dieser Tage bei der WM im Umgang mit Fans und Medien sieht,  kann nachvollziehen, warum sie im Vorjahr in Deutschland zur Sportlerin des Jahres gewählt wurde und nicht die etwas spröde und distanziert wirkende Skiläuferin Maria Riesch, die 2011 den Alpinen Gesamtweltcup gewinnen konnte. «Ich mag mich nicht verstellen, ich bin einfach so, wie ich bin», meint Magdalena Neuner, die bei ihrer Abschiedsparty in Ruhpolding ihr ganz persönliches Schützen-Fest erlebt. «So was wie hier habe ich noch nirgends gesehen», gesteht die 25-Jährige.

Nichts für Nervenbündel

Was für die Langläufer der Holmenkollen in Oslo und die Skifahrer der Hahnenkamm in Kitzbühel, das ist für die Biathleten Ruhpolding. Das absolute Nonplusultra, ein Epizentrum der Begeisterung. Hier im Herzen des Miesenbacher Tals, wo die Ortsteile so wunderbare Namen tragen wie «Fritz am Sand» oder «Bibelöd»,  grassiert die «Biathlonitis» in ihrer stärksten Ausprägung.

Menschen, die an Biathlonitis leiden, erkennt man meist an ihren komischen Kappen und dem Glühweinbecher, den sie in der Hand halten. Ihre Sprache erinnert bisweilen an die Urlaute der Menschheit: «Heeeeeeeeey» grölen die 30’000 Zuschauer in der Chiemgau-WM-Arena, wenn ein Deutscher Biathlet einen Volltreffer gelandet hat, «Ouuuuuuuh» jammern sie, wenn der Schuss das Ziel verfehlt.

Diese Schreie, die jede Anzeigetafel überflüssig machen, gehen durch Mark und Bein – auch den Athleten. «Wenn du ein Nervenbündel bist, dann kriegst du am Schiessstand in Ruhpolding Probleme», erzählt der Österreicher Christoph Sumann, «so taub kannst du gar nicht sein, dass du die Zuschauer nicht hörst.»

250’000 Zuschauer an acht Tagen

Die WM ist ein riesiges Spektakel, eine Biathlon-Show, die es in dieser Form noch nie gegeben hat. 250’000 Fans sorgen an den acht Wettkampftagen für einen neuen Biathlon-Besucher-Rekord, in der Chiemgau-Arena wird gefeiert, getrunken und gegessen, was das Zeug hält: 8000 Liter Glühwein, 1500 Kilogramm Fleischkäse und 50’000 Semmeln stehen parat, 1100 Freiwillige stehen Gewehr bei Fuss.

Die Ruhpoldinger wissen, wie Gastfreundschaft funktioniert. Seit norddeutsche Touristen in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Kurort entdeckt hatten, sorgten die pfiffigen Oberbayern immer wieder für Trends und Massstäbe. In Ruhpolding wurde das erste Wellen-Erlebnisbad der Alpen eröffnet und die Gäste erwartete eine erste dezente Form des Pauschal-Tourismus.

Wie gut die Ruhpoldinger ihr Handwerk beherrschen, wird im putzigen Ortszentrum deutlich. Alles lebt und liebt den Biathlon-Sport, in Ruhpolding hat offenbar jeder einen Schuss. Von den Hausdächern wehen bunte Fahnen, und es gibt keine Auslage, in der nicht auf die Weltmeisterschaft Bezug genommen wird: Mode Speckbacher wirbt mit dem exklusiven grün-blauen Biathlon-Dirndl, in der Weinhandlung nebenan gibt es das eigene Ruhpoldinger Biathlon-Tröpferl, Bäcker Schuhbeck lädt zum Biathlon-Frühstück für 3 Euro 50 und im Hotel zur Post wird den Hungrigen ein Biathlon-Teller kredenzt.

«Come in, sauf out»

Beim Public Viewing im eigens errichteten Champions Park trinkt der Fan Zielwasser (=Jagatee) und kann zwischen Loipen- oder Volltreffer-Krusti wählen, und wer das offizielle Motto der Party-Kneipe «d’Strafrund’n» liest – «Come in and sauf out» – kann sich in etwa vorstellen, wie gesittet es beim Aprés Biathlon zugeht. Biathlon hier, Biathlon da – es würde nicht weiter verwundern, wenn in dieser biathlongeschwängerten bayrischen Luft die Ruhpoldinger Babys als erstes Wort nicht Mama sagten – sondern Bumm.

Die Ruhpoldinger sind dermassen in den Biathlon-Sport verschossen, dass während der WM sogar die Liebe in die Strafrunde muss. Das Standesamt im Ortszentrum ist dieser Tage menschenleer. «Wer will heute schon heiraten?» Die Dame im blauen Kostüm sitzt auf einer Holzbank vor dem Amt, sie hat Zeit, die  Frühlingssonne zu geniessen. «Kommt sowieso keiner.» 

Abschiedstour der Strickliesel

Sie haben alles was Besseres zu tun. Sie müssen Magdalena Neuner anfeuern, so lange es noch Gelegenheit dafür gibt. Die 25-Jährige befindet sich zwar erst in einem Alter, in denen anderen Spitzensportlern gerade einmal der Durchbruch gelingt, doch sie hat bereits genug. Das Rampenlicht, dem die elffache Weltmeisterin und Doppel-Olympiasiegerin seit Jahren ausgesetzt ist, ist ihr zu grell geworden, Neuner sehnt sich nach einem normalen Leben.

Ein Schritt zurück ins Privatleben, der sich bereits angekündigt hatte: Schon mit 22 Jahren hatte die Bayerin erstmals über ihren frühen Abschied laut nachgedacht, als sie im vergangenen Dezember nun ihr Karriereende offiziell machte, erntete sie viel Lob und Anerkennung. «Topathleten kann es viele geben, so eine Persönlichkeit aber haben nur wenige», meint der Norweger Ole Einar Björndalen, mit 93 Weltcupsiegen und 36 WM-Medaillen selbst eine Ausnahmeerscheinung. «Für mich ist Lena eine Legende.»

Magdalena Neuner geniesst ihr Abschiedsfest. Eine riesige Last sei von ihren Schultern gefallen, hatte sie vor der WM erklärt. Diese Leichtigkeit des Seins beflügelt sie zu einer letzten Demonstration ihres aussergewöhnlichen Könnens. Und dann? Was ist dann, wenn sie ihren letzten Schuss abgefeuert hat? Sinnkrise? Leere?

Magdalena Neuner wird wieder zur Waffe greifen – allerdings zu einer weit ungefährlicheren. Mit ihrer geliebten Stricknadel (www.magdalena-strickt.de) geht die 25-Jährige ähnlich geschickt um, wie mit dem Gewehr.

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