Am Samstag kann Bayern München zum 23. Mal Deutscher Meister werden – sieben Runden vor Saisonende und damit so zeitig wie niemals zuvor in 50 Jahren Bundesliga. Eine Betrachtung der Kräfteverhältnisse im deutschen Fussball.
Was ist schon ein Titel bei der Aussicht auf drei? Schön und gut, aber nicht sehr gut, um in der anfeuernden Diktion der Münchner Bayern-Bosse Uli Hoeness und Matthias Sammer zu Beginn dieser Bundesligasaison zu bleiben. Darf der erste Titel, falls an diesem Samstag «dahoam» zurückerobert, auch gefeiert werden? Nein, nur still genossen.
Denn drei Tage später steht den Bayern eine noch wichtigere Hausaufgabe bevor als die mögliche deutsche Meisterprüfung im Duell mit dem Hamburger SV: das Viertelfinalhinspiel in der Champions League gegen den italienischen Campione Juventus Turin.
Und überhaupt: Um das eigene Hochgefühl der nationalen Unantastbarkeit, beglaubigt durch das Zahlenbild der Tabelle, endlich wieder für ein paar Glücksmomente auskosten zu können, muss zuvor der Titelverteidiger mitspielen. Borussia Dortmund aber denkt nicht daran, am Samstagnachmittag (15.30 Uhr) in Stuttgart zu verlieren, zumal ein Erfolg beim VfB die beste Wegzehrung für die Reise nach Málaga wäre, wo für die Westfalen am Mittwoch der Viertelfinalzweiteiler in der Champions League beginnt.
Dortmund darf nicht gewinnen
Nur ein Remis oder eine Niederlage des BVB in der baden-württembergischen Landeshauptstadt ermöglicht den Münchnern bei einem Sieg am Samstagabend (18.30 Uhr) gegen Hamburg, schon jetzt bei dann 22 oder 23 Punkten Vorsprung auf Dortmund das I-Tüpfelchen auf eine grandiose Bundesliga-Spielzeit der Bayern-Rekorde zu setzen. Andernfalls müssten sie beim Rekordmeister mindestens noch eine Woche, bis zum Gastspiel bei Eintracht Frankfurt, warten, ehe der erste grosse Moment dieser Saison der chronischen Erfolge gekommen wäre.
Der Berg ruft, aber der Gipfel ist noch fern. Und so kommen sich die Bayern wie auf einer Mittelstation vor: bestens unterwegs, aber noch lange nicht am höchsten Ziel. Das wäre erst erreicht, wenn zur unausweichlichen 24. deutschen Meisterschaft des Clubs von der Säbener Strasse auch noch ein Sieg im DFB-Pokalfinale am 1. Juni in Berlin und damit eine weitere Ablösung der Dortmunder käme, und als Nonplusultra ein Triumph in der Champions League, in der es am 25. Mai im Londoner Endspiel um alles geht.
Die Saison der Rekorde
Schliesslich speist sich die geballte Kraft der «Roten» in dieser Spielzeit zuerst aus der als tragisch empfundenen Champions-League-Niederlage per Elfmeterschiessen gegen den FC Chelsea am 19. Mai 2012 im eigenen Stadion und der nervenden Dominanz der Dortmunder in den Bundesliga-Jahrgängen 2010/11 und 2011/12.
«Wir haben ihren Bogen sozusagen zwei Jahre lang gespannt», hat der Dortmunder Trainer Jürgen Klopp vor ein paar Wochen gesagt, «sie mussten quasi nur noch den Pfeil abschiessen.»
Das bayerische Trefferbild ist nach 26 Ligaspieltagen fast unübertrefflich: 22 Siege, drei Remis, eine Niederlage (daheim gegen Leverkusen), diese Bilanz ist für die nationale Konkurrenz geradezu einschüchternd. Auswärts liessen die Münchner bei 13 Spielen nur ein Remis zu: Rekord. «Herbstmeister» waren sie nach der 14. Runde: Rekord: In der Hinrunde standen gerade mal sieben Gegentore (in der Rückrunde bisher vier) zu Buche: Rekord.
Einen «Ostermeister» hat es in 50 Jahre nicht gegeben
Käme nun als Krönung des Serienerfolgs auch noch die Meisterschaft am 27. Spieltag hinzu, wäre dies natürlich auch ein Rekord, vielleicht sogar für die «Ewigkeit». Damit stellten die Bayern auch ein Diktum ihres Präsidenten Uli Hoeness in Frage, der angesichts einer verpassten «Wintermeisterschaft» einmal gesagt hatte: «Der Nikolaus war noch nie ein Osterhase.» Er wird es auch in Zukunft nicht sein, aber: Einen «Ostermeister» hat es in fünfzig Jahren Bundesliga auch noch nie gegeben.
Und doch mahnen sie in diesen Münchner Tagen lieber statt zu frohlocken und zu jubilieren. Tonangebend ist dabei der auch für diese Rolle verpflichtete Sportvorstand Matthias Sammer. Der Sachse ist kein «Feierbiest», für das sich der ehemalige Bayern-Coach Louis van Gaal an grossen Feiertagen hielt.
Sammer wähnt sich nie am Ziel
Sammer, der als Spieler mit dem VfB Stuttgart und Borussia Dortmund die Meisterschale hochhielt, mit dem BVB 1997 auch noch die Champions League gewann und als Trainer des Clubs vom Borsigplatz 2002 noch einmal zu deutschen Titelehren kam, blickt in den Augenblicken ausgelassener Freude und aufgewühlter Emotionen stets nach vorn. Er wähnt sich, das macht ihn manchmal anstrengend, nie am Ziel.
Und so sagte er auch vor der möglicherweise letzten Etappe zum Zwischenziel Meisterschaft gegenüber der «Bild»-Zeitung: «Natürlich wäre es ein unglaublicher Moment, den wir uns allerdings nur sehr kurz gönnen dürfen. Es wäre ein schönes Gefühl, aber das darf nicht dazu führen, sentimental zu sein.»
Schon gar nicht beim Blick auf «Juve», denn das seien «in der Regel schön anzusehende Spieler, schwarze Haare, treue Augen, die dich anschauen – und sie sind Schlitzohren». Diesen rehäugigen «Schlitzohren» vor allem gelte alles Münchner Sinnen und Trachten nach dem erwarteten Pflichtsieg über den HSV und den damit vielleicht verbundenen Meister-Insignien.
Das Werk des Altmeisters Heynckes
Die Sammersche Ernsthaftigkeit hat von den Bayern in dieser Saison Besitz ergriffen. So sagte der zu alter Form und Torgefährlichkeit zurückgekehrte Nationalspieler Thomas Müller kürzlich: «Wir sind demütig geworden und hungrig auf Titel. Wir posaunen nicht raus, dass wir die Grössten sind, sondern machen unser Ding.» Und wie.
Angetrieben und angeleitet von Trainer-Senior Jupp Heynckes, dem zur nächsten Saison der katalanische Weltstar Pep Guardiola folgt, stimmt die Balance zwischen Defensive und Offensive, haben die Münchner durch ihr intensives Umschaltspiel neuen Schwung aufgenommen, herrscht unter den Koryphäen in Rot ein angenehmes Betriebsklima.
Megainvestition zahlt sich aus
Ausgezahlt hat sich zudem die Megainvestition von rund 70 Millionen Euro in neue Spieler wie den defensiven Mittelfeldspieler Javier González (er kostete die Münchner die deutsche Rekordtransfersumme von 40 Millionen Euro), den Stürmer Mario Manzukic (12 Millionen), den Abwehrchef Dante (4,7 Millionen) und auch in den Ergänzungsspieler Xherdan Shqairi, für mindestens 12 Millionen Euro an den FC Basel flossen.
«In der letzten Saison», sagt Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge, «haben wir uns nach einer exzellent besetzten Bank gesehnt, jetzt haben wir sie.» Manchmal auch zum Leidwesen etablierter Grössen wie Arjen Robben und Mario Gomez, die dort öfters als ihnen lieb ist Platz nehmen mussten. Es war eine Meisterleistung Heynckes‘, die Münchner Fliehkräfte zu bändigen und das Ego seiner Spieler mit Stammplatzanspruch in das grosse Ganze einzubetten.
Vorfreude ist die schönste Freude
Borussia Dortmund haben die Bayern in dieser Saison schon überflügelt – in der Meisterschaft und im Pokalwettbewerb. Doch die schwarzgelbe Gefahr ist damit nicht gebannt. Scheiterten die Münchner in der Champions League im Halbfinale oder Endspiel am FC Barcelona oder an Real Madrid, wäre das zu verschmerzen; eine Niederlage indes gegen den ärgsten nationalen Widersacher im grössten internationalen Wettstreit täte überaus weh.
Die Bayern bleiben auf der Hut – gerade angesichts einer bevorstehenden Meisterschaft, die sie im Alleingang beherrscht haben. Übermachtgefühle sind trügerisch. Die Münchner wissen das inzwischen, und so gilt das Rummenigge-Motto, «Vorfreude ist die schönste Freude» vorerst weiter.
Gefeiert wird erst am 11. Mai
Gefeiert wird später: die Meisterschaft mit Schale am 33. Spieltag nach dem Heimspiel gegen den FC Augsburg am 11. Mai und alles, was dann kommen sollte, noch später. Tage des Glücks? Am Samstag jedenfalls fahren die Spieler, auch wenn sie ihr Meisterstück vollbracht haben sollten, nach einem kurzen gemeinsamen Arbeitsessen (Sammer: «damit die Speicher aufgefüllt werden») zurück nach Haus, als wäre nichts geschehen.
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