It’s not about the bike

Vom Erlöser zum Unmenschen: Lance Armstrongs Fall zeigt mehr als das Fehlverhalten eines Einzelnen. Er ist ein Beispiel dafür, wie Macht und Geld den Sport bestimmen.

FILE - This July 29, 2001 file photo shows Lance Armstrong during ceremonies after he won the Tour de France cycling race after the 20th and final stage, in Paris. Armstrong was stripped of his seven Tour de France titles and banned for life by cycling's (Bild: AP/Laurent Rebours)

Vom Erlöser zum Unmenschen: Lance Armstrongs Fall zeigt mehr als das Fehlverhalten eines Einzelnen. Er ist ein Beispiel dafür, wie Macht und Geld den Sport bestimmen.

Gibt Lance Armstrong nun doch zu, alles verloren zu haben? ­«Alles, was ich neben dem Radfahren mache, ist verschwunden. Denken Sie nicht eine Sekunde lang, dass ich das nicht begreife. Es geht mir nicht um Geld. Alles. Es geht mir auch um die Leute, die über die Jahre an mich geglaubt haben. All das ist ausgelöscht. In keinem Vertrag muss stehen, dass ein positiver Test bedeutet, dass man gefeuert wird. Das ist nicht so wichtig wie der Verlust des Supports von Millionen von Leuten.»

Erfunden ist an diesem Zitat nichts. Nur ist es, fast schon getreu den Methoden des Radsports, manipuliert: Zweimal ersetzt ein «ist» die Konjunktivform, die Armstrong im Jahr 2005 verwendete, als er sich ­unter Eid gegen den Vorwurf des ­Dopings wehrte, den die Versicherungsgesellschaft SCA gegen ihn erhob. Alles wäre verschwunden, alles wäre ausgelöscht. Ein Geständnis bleibt Armstrong der Öffentlichkeit weiter schuldig.

Erst bejubelt, dann denunziert

Spätestens seit dem umfangreichen Untersuchungsbericht der US-Anti-Doping-Behörde (Usada) von vor zwei Monaten ist bekannt, dass Armstrong ein dreister Lügner und Doper mit krimineller Energie ist. Die Medien haben die Geschichte seines tiefen Falls dankbar aufgenommen. Aber Armstrong nur als moralisch degenerierten Individualisten darzustellen, erfasst nicht annähernd das Ausmass der Verfehlungen, die während der «Epoche Armstrong» von verschiedenen Akteuren begangen worden sind. So unkritisch, wie Armstrong während und nach seinem Aufstieg zur Ikone von einer an eine Glaubens­gemeinschaft erinnernden Millionenschar heroisiert wurde, so einseitig ist die aktuelle Denunziationspraxis. Und nicht zwingend aufklärend.


Armstrongs Karriere auf der Zeitachse

Der Radsport in den USA steckte noch in den Kinderschuhen, als sich der junge Hitzkopf und Draufgänger Armstrong 1993 zum Strassenweltmeister krönte. Zwar hatten die USA den dreifachen Tour-de-France-Sieger und zweimaligen Weltmeister Greg LeMond hervorgebracht, der 1986 als erster Nicht-Europäer die Grande Boucle gewann. Aber die Begeisterung für den Radsport hielt sich in der amerikanischen Öffentlichkeit in Grenzen. Zu vertrackt waren seine Gesetze, zu undurchsichtig sein Funktionieren. Die Story, die den Radsport in den USA in jeden Haushalt brachte, sollte rund zehn Jahre später ein anderer liefern.

Der Retter der Tour de France

Sie ist altbekannt: 1996 wurde bei Armstrong Hodenkrebs diagnostiziert. Er war weit fortgeschritten, es hatten sich Metastasen im Bauch, in der Lunge sowie zwei Tumore im Gehirn gebildet. Armstrong entschied sich für eine besonders aggressive Chemotherapie, weil diese eher garantierte, dass er seine Radsportkarriere fortsetzen konnte. Zwar musste ein Hoden entfernt werden, aber Armstrong erholte sich vollständig. 1998 kehrte er für US Postal zurück in den Radsport. Doch der Wiedereinstieg verlief nicht reibungslos. Arm­strong verzichtete auf einen Start an der Tour. Ein Jahr später aber triumphierte er bereits ein erstes Mal auf den Champs-Elysées.

Warum nacherzählen, was bekannt ist? Weil darin der Schlüssel liegt zum Verständnis der weitreichenden Folgen, die der Fall Armstrong mit sich brachte. Der Sieg dieses Todgeweihten, der unter beinahe mirakulösen Umständen zurück zu den Lebendigen kam und sich über sie erhob, indem er die wichtigste Rundfahrt gewann, fiel zusammen mit einem Moment, in dem auch der Radsport dringend einen Erlöser brauchte.

Die Tour vom Vorjahr, an der Armstrong nicht teilgenommen hatte, war gezeichnet von der «Festina-Affäre», die systematisches EPO-Doping beim französischen Team offenbarte. Der Veranstalter Amaury Sport Organisation (ASO) fürchtete ein Desaster und wagte den Schritt in die Offensive: Der damalige Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc rief die nächste Edition strategisch zur «Tour der Erneuerung» aus. Und wer wäre als erster Sieger in dieser «neuen Ära» besser geeignet gewesen als einer, der den Krebs niedergerungen hat, um wieder Rad zu fahren? Leblanc hielt die Tour für «gerettet».

Ein Erneuerer in dunkler Stunde

Die besondere Geschichte von Armstrongs erstem Tour-Sieg, mitunter genährt von der Idee des «American Exceptionalism», die den USA eine Sonderstellung in der Welt zuspricht, stiess nicht nur in den Staaten auf ein enormes mediales Echo. Für die ASO und den Weltradsportverband (UCI) war Armstrong der ideale Erneuerer.

Dank ihm liessen sich neue, riesige Märkte erschliessen. Armstrong wuchs über den Sport hinaus, wurde zur globalen Marke. Zum Star, der mit Sponsoren und Versicherungen Millionenverträge abschloss. In seinem Sog sprengte auch die UCI Grenzen und streifte den Mief eines langen europäischen Jahrhunderts Radsportgeschichte ab.

Wie wir heute wissen: vermeintlich. Die UCI musste für ihr neues, sauberes Image einigen Dreck weg­polieren. Bei seinem ersten Tour-Sieg wurde Armstrong positiv auf Cortison getestet. Wohlwollend akzeptierten die ASO und die UCI ein nach­gereichtes Attest.

2001 soll während der Tour de ­Suisse in Armstrongs Blut EPO gefunden worden sein. Armstrong traf sich darauf zu einem Gespräch mit dem damaligen UCI-Chef Hein Verbruggen. Die toxische Probe verschwand, wohl aber tauchten Zahlungen Arm­strongs in der Höhe von mindestens 125 000 Dollar auf dem Konto des Weltradsportverbands auf. Und bei Armstrongs zweitem Comeback im Jahr 2009 sah die UCI darüber hinweg, dass Armstrong noch kein halbes Jahr in den Datenbanken der Anti-­Doping-Behörden gemeldet war, wie es das Reglement vorsieht.

Einflussreiche Freunde

Aber die Welt des offiziellen Radsports begrüsste Armstrongs erneutes Comeback mit Enthusiasmus. Nach dem Fuentes-Skandal 2006, der «Tour de Farce» 2007 und einer Tour-de-France-Auflage mit wenig Verkaufswert – Armstrong selbst bezeichnete die Rundfahrt von 2008 als Witz – war die UCI froh um die Rückkehr des Amerikaners. Das ist das Problem der UCI: Sie ist zwar ein Interessenverband, aber sie müsste ebenso die Verantwortung für einen sauberen Radsport tragen.

Der Weltradsportverband hat auch auf eine Sanktion Armstrongs verzichtet, als dieser und sein Teamchef Johan Bruyneel im Jahr 2009 unter fadenscheinigen Gründen einen unangekündigten Tester der französischen Anti-Doping-Behörde (AFLD) hinhielten. Die UCI drückte wohl ein Auge zu, weil sie selbst seit Jahren mit der AFLD im Clinch steht. Die französische Agentur wirft der UCI vor, sie führe vorhersehbare und ineffiziente Dopingkontrollen durch.

«Au revoir Pierre», twittert er dem Dopingjäger hinterher

Armstrong, der mehrmals von Nicolas Sarkozy in den Elysée-Palast eingeladen wurde, soll 2010 beim damaligen französischen Präsidenten erwirkt haben, dass dieser AFLD-Chef Pierre Bordry absetzt. Bruyneel übermittelte dem UCI-Präsidenten Pat McQuaid danach per Mail die «frohe» Botschaft, man müsse sich über Bordry bald nicht mehr ärgern, Armstrong twitterte: «Au revoir Pierre.»

Auch zu Bill Clinton soll Arm­strong ausgezeichnete Beziehungen unterhalten haben. Im Februar 2012 stoppte ein kalifornischer Staats­anwalt auf Betreiben von Clinton eine von Bundesagent Jeff Novitzky geleitete Ermittlung gegen Armstrong. Laut der amerikanischen Publizistin Selena Roberts habe der frühere Präsident deutlich gemacht, dass die Regierung Besseres zu tun habe, als einem Helden den Prozess zu machen. Als das Verfahren eingestellt wurde, überwies Armstrong zufälligerweise 100 000 Dollar an eine von Clinton unterstützte Brustkrebs-Stiftung.

Mit der Stiftung in die Politik

Armstrong als Erlöserfigur – es ist ein Narrativ, das Armstrong mit seinem autobiografischen Bestseller «It’s Not About the Bike» (2000) auch selbst schrieb. Und welches durch seine Krebsstiftung Lance Armstrong Foundation, 1997 gegründet und seit 2004 unter dem Banner «Livestrong» agierend, eine weitere Dimension erhielt und Armstrong auf die Bühne der Politik hievte. Er, der den Krebs besiegt hatte, schickte sich an, Millionen von Leuten vom Leid dieser Krankheit zu heilen.

Als Armstrong im Juni 2005, kurz vor seinem erstmaligen Rücktritt, zum siebten und letzten Mal auf dem obersten Treppchen des Tour-de-France-Podiums stand, sagte er ins Mikrofon, er habe Mitleid mit all ­jenen, die nicht an den Radsport glaubten, mit all den «Zynikern und Skeptikern», mit all jenen, die nicht «gross träumen» könnten und an «Wunder» glaubten. Der Journalist Paul Kimmage sollte Armstrong später als «Cancer Jesus» bezeichnen.

Livestrong wurde Armstrongs Schutzschild gegen immer heftiger werdende Doping-Vorwürfe. Und er nutzte die Stiftung auch für politische Zwecke: 2008 soll er versucht haben, US-Präsident Barack Obama für eine Livestrong-Veranstaltung als Redner zu gewinnen. Dieser hatte aber bereits andere Pläne, unter anderem sollte er vor 200 000 Menschen im Berliner Tiergarten sprechen. Armstrong beschwerte sich bei Senator John Kerry und drohte per Mail, er lasse die Millionen von Livestrong-Mitgliedern wissen, wo die Demokratische Partei in der Krebsfrage stehe.

Mit dem Geld wächst die Macht

Livestrongs politische Wirkmacht geht Hand in Hand mit ihrem ökonomischen Erfolg: 2004 lancierten Livestrong und Nike das gelbe Plastik­armband, das bis anhin 80 Millionen mal verkauft worden ist. Tausende winkten ihrem Helden damit am Strassenrand zu, Tausende bejubelten ihn bei seinen zahlreichen Wohltätigkeitsveranstaltungen, für die sich Armstrong bis zu 200 000 Dollar pro Auftritt auszahlen liess.

2005 nahm Livestrong 52 Millionen Dollar ein. Im kommenden Jahr, als Armstrong wegen seines Rücktritts von der Bildfläche verschwand, sackten die Einnahmen zusammen. Mark McKinnon, Direktionsmitglied bei Livestrong und einst Berater von George W. Bush und John McCain, sagte einmal, der Hauptzweck von Livestrong sei, auf den Krebs aufmerksam zu machen und das Produkt «Hoffnung» zu verkaufen. Logisch, musste die personifizierte «Hoffnung» zurückkehren, als der Umsatz einbrach. Und sie kehrte zurück.

«Hope rides again» übertitelte Armstrongs Sponsor Nike sein zweites Comeback im Jahr 2009. Der Öffentlichkeit verkaufte er seine Rückkehr in den Berufsradsport als reine Wohltätigkeitsmission. Er fahre umsonst und nur für den guten Zweck. Und die Einnahmen von Livestrong kletterten wieder über die Marke von 40 Millionen Dollar.

Symbiose mit Nike

Auch die Firma Nike, mit der Arm­strong und seine Foundation eine fast symbiotische Beziehung hatten, dürfte sich gefreut haben. 2010 schloss sie mit Livestrong einen Fünfjahresvertrag ab, der der Stiftung ein Minimum von 7,5 Millionen Dollar jährlich in die Kasse spült. Gleichzeitig erwarb Nike das Recht, Produkte mit dem Livestrong-Logo zu vertreiben. Erst als der Usada-Bericht Armstrongs Machenschaften vor Kurzem bis ins Detail offenbarte, wendeten sich Nike und der Fahrradhersteller Trek von Armstrong ab. Ebenso hat die Livestrong Foun­dation jegliche Verbindungen zu Armstrong gekappt.

Auch die UCI liess ihren ehemaligen Poster Boy letztlich fallen. Sie löschte Armstrongs Palmarès aus der Geschichte und sperrte den US-Amerikaner lebenslang. «Armstrong hat keinen Platz mehr im Radsport», verkündete Präsident Pat McQuaid an einer Pressekonferenz im Oktober. Derselbe McQuaid, der vor zwei Jahren in einem Interview noch die enge Zusammenarbeit erklärt hatte: «Es ist nur normal, dass wir, um den Sport zu globalisieren, eine gute Beziehung zum grössten Star des Sports pflegen.»

Auch die ASO und Tour-Direktor Christian Prudhomme schlossen sich McQuaids plötzlichem Meinungs­umschwung an. An der Präsentation für die Tour 2013 zeigten die Organisatoren einen Werbefilm, der hundert Jahre Tour-Geschichte hätte abdecken sollen. Armstrong kam nicht vor.

Plötzlich ist der einstige Held ein PR-Problem

Die «Ära Armstrong» behandeln die Funktionäre und Organisatoren wie ein reines PR-Problem. Vor Wochenfrist meinte McQuaid, man müsse die Olympischen Spiele in London als Massstab für den aktuellen Radsport nehmen, denn die «Affäre Armstrong war in den Neunzigern». Bemerkenswert ist dabei die Art und Weise, wie Bradley Wiggins und Mark Cavendish mit dem Team Sky derzeit Grossbritannien zu einer Insel der Radfahrer machen. Es ist eine ganz ähnliche Transformation, wie sie Armstrong damals in den USA eingeleitet hatte.

Praktisch gleichzeitig mit der ­Beteuerung des UCI-Präsidenten meldete die Welt-Anti-Doping-Behörde (Wada) Zweifel an der Untersuchungskommission an, die die UCI auf Druck der Öffentlichkeit Ende November eingesetzt hatte, um ihre eigene Rolle in der «Affäre Armstrong» untersuchen zu lassen. Auch kritischen Beobachtern des Radsports reicht diese Kommission nicht. Sie werden nicht müde, die Funktionäre als das eigentliche Problem zu brandmarken.

Greg LeMond sowie unter anderen die Journalisten Paul Kimmage und David Walsh formierten eine Gruppe namens «Change Cycling Now». ­Diese fordert einen fundamentalen Wechsel in der Führung des Weltradsportverbands und die Implementierung unabhängiger Dopingkontrollen. LeMond liess sich als interimistischen Präsidenten der UCI vorschlagen. Da dieser Bewegung keine aktiven Fahrer angehören, ist ihr Einfluss ohnehin eher gering.

Ein Leben auf der Couch

Armstrong hat bis Ende Dezember Zeit, Einspruch gegen seine Sperre und die Aberkennung seiner Titel durch die UCI zu erheben. Er wird allerdings kaum aktiv werden. Sein Twitter-Profil weist ihn nicht mehr als siebenfachen Tour-Sieger aus, sondern als fünffachen Vater.

Dass er einfach «nur herumhängt», wie er vor einem Monat mitsamt einem Foto twitterte, das ihn auf einer Couch zeigt, über der sieben eingerahmte Maillots jaunes hängen, ist jedoch unwahrscheinlich. Denn nicht nur die Versicherungsgesellschaft SCA fordert knapp 12,1 Millionen Dollar, auch andere Parteien, die sich betrogen fühlen, wollen Geld zurück. Nicht zuletzt hat die amerikanische Post US Postal eine Untersuchung eingeleitet.

Armstrongs ehemaliger Teamchef Bruyneel hat gegen seine eigene Sperre, die von der Usada verhängt wurde, Einspruch erhoben und den Fall vor Gericht gezogen. Möglicherweise wird Armstrong als Zeuge aufgeboten und wegen Meineids überführt. Dann droht ihm eine Gefängnisstrafe. Es darf bezweifelt werden, dass er seinen jahrelangen Einsatz für die Live­strong-Stiftung als gemeinnütziges Engagement geltend machen könnte, um die drohende Strafe in Sozial­stunden umzuwandeln.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.12.12

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