«Je wilder der Stier, desto besser der Kampf»

Sechs Europäer sind in der K.o.-Phase noch dabei, so viele wie auch 2010 in Südafrika, aber die grosse Show bieten vier Jahre später in Brasilien die Süd- und Mittelamerikaner. Die WM-Geschichte, die Furchtlosigkeit und ihre Leidenschaft sind Argumente für die Vertreter aus der Neuen Welt. Eine Zwischenbilanz.

Eine bunte WM, ein spektakuläres Turnier – das Zwischenfazit nach der Vorrunde in Brasilien. (Bild: Keystone/DARIO LOPEZ-MILLS)

Sechs Europäer sind in der K.o.-Phase noch dabei, so viele wie auch 2010 in Südafrika, aber die grosse Show bieten vier Jahre später in Brasilien die Süd- und Mittelamerikaner. Die WM-Geschichte, die Furchtlosigkeit und ihre Leidenschaft sind Argumente für die Vertreter aus der Neuen Welt. Eine Zwischenbilanz.

Europa ist auch noch mit dabei – obwohl drei Giganten des Alten Kontinents schon in die Sommerferien nach Hause zurückgeflogen sind. Die Titelverteidiger aus Spanien wurden früh durchschaut und deshalb hinausgeschickt, die Italiener verschulden das frühe Aus wohl ihrer altmodischen Spielart, und die Engländer können als etwas naiv bezeichnet werden. Doch die in Brasilien weiter mitspielenden europäischen Mannschaften haben es in sich: Spitzenteams wie die Niederlande, Frankreich oder Deutschland können auf mehr als nur die nächste Runde im Achtelfinale hoffen.

Die grosse Show aber liefern bisher die Südamerikaner und die Mittelamerikaner mit der Entdeckung Costa Rica und den zähen Mexikanern. Dabei beschränkt sich der Glanz der Turnierfavoriten bisher fast allein auf die exquisiten Künste und Tore ihrer Helden Neymar und Messi; andere Mannschaften wie die vor Kraft und Willensstärke strotzenden Chilenen, die spieltechnisch und taktisch beeindruckenden Kolumbianer, spielen ihre Klasse im Kollektiv aus.

Sinnbild für das Ausscheiden dreier grosser Europäaer, des Titelverteidigers Spanien, den altmaodischen Italienern und den naiven Engländern.

Sinnbild für das Ausscheiden dreier grosser Europäaer, des Titelverteidigers Spanien, den altmaodischen Italienern und den naiven Engländern. (Bild: Keystone) (Bild: Keystone/JUAN CARLOS ULATE)

Dazu kommen die wie gewohnt hart und diszipliniert um die passenden Ergebnisse ringenden Uruguayer, deren Stürmerstar Luis Suárez allerdings die Grenzen des Hinnehmbaren überschritt, als er sich zum wiederholten Mal, diesmal in den Rücken des Italiener Chiellini, verbiss.

Europa muss nicht verzagen

Fünf von sechs südamerikanischen Teams sind in der Runde der letzten 16 dabei, das ist dieselbe Quote wie vor vier Jahren in Südafrika, wo am Ende zwei europäische Teams, Spanien und Holland, den Weltmeister unter sich ausmachten. Noch also muss Europa nicht verzagen vor der angeblichen Übermacht der Südamerikaner, für die bei dieser WM allerdings nicht nur die Statistik spricht.

Bei den vier Titelkämpfen auf ihrem Kontinent siegte jedes Mal einer von ihnen: 1930 in Uruguay der Gastgeber, 1950 in Brasilien Uruguay, 1962 in Chile Brasilien und 1978 in Argentinien die Heimmannschaft. Dass die brasilianische Zeitung «O Globo» schon die «lateinamerikanische Vorherrschaft» gegenüber dem alten Europa bejubelt, erscheint dennoch voreilig.

Es ist ein spektakuläres Turnier, und Brasilien und Argentinien besitzen grosses Steigerungspotenzial.

Zumal am letzten Gruppenspieltag Deutschland in die K.o.-Phase folgte. Ein halbes Dutzend Europäer hatte sich auch 2010 in die Achtelfinals gekämpft, drei davon erreichten das Halbfinale. Auch in Brasilien haben die Holländer mit einer taktischen und disziplinierten Meisterleistung bewiesen, wie man die Chilenen, die die Fussballwelt am liebsten aus den Angeln höben, aufhalten kann.

Natürlich gibt es gute Argumente dafür, dass am Ende dieses spektakulären Turniers ein südamerikanisches Team den Weltpokal in den Himmel über dem Maracana-Stadion von Rio de Janeiro strecken könnte. Brasilien und Argentinien besitzen noch ein grosses Steigerungspotential, das vor allem die Ausrichternation dieser WM schon am Samstag im Achtelfinalhit gegen Chile in Belo Horizonte mobilisieren muss.

Das Klima und die Leidenschaft

Die klimatischen Bedingungen, vor allem die brütende Hitze in den nordbrasilianischen Spielorten sowie in Manaus, sprechen für die an solche Umstände gewöhnten Südamerikaner. Doch so belastend, dass deswegen kein Europäer eine Chance hätte, den Südamerikanern am Ende eine lange Nase zu drehen, sind sie auch nicht.

Der Heimvorteil der Lateinamerikaner wiegt atmosphärisch schwerer ob der unglaublich leidenschaftlichen und patriotischen Unterstützung durch deren Fans. Gegenüber der Gefolgschaft der Chilenen zum Beispiel sind die Brasilianer fast noch zurückhaltend in ihrer Begeisterung über die bislang auch eher durchwachsenen Leistungen der Seleção. Die Nationalteams aus Chile, Argentinien und Kolumbien können auf ihre Fans bauen, die zu Zehntausenden aus den Stadien, in denen ihr Team den nächsten Coup anstrebt, Stimmungshochburgen machen.

Was die Südamerikaner den Europäern ausserdem voraushaben, sind die vielen exzellenten Stürmer und offensiven Mittelfeldspieler in ihren Reihen. Während Brasilien auf Neymars Geniestreiche (bisher vier Tore) fixiert ist, wartet Argentinien auf das Erblühen von Messis (vier Tore) Nebenleuten Aguero, Higuain oder di Maria.

Kolumbien dagegen glänzte mit dem stürmischen Spielmacher James Rodriguez (drei Treffer) und dem Angreifer Jackson Martinez (zwei), während Chile seine Gegner als Team zu überrumpeln versucht. Bei Uruguay hat sich der verbissene Suárez (zwei Tore) ins Abseits geschossen, bleibt noch Cavani, der im Achtelfinale gegen Kolumbien an diesem Samstag treffen soll.

Weltklasseniveau in europäischen Vereinen erreicht

Mit der Mischung aus Instinkt, Wucht und technischer Raffinesse machen es diese Offensivkräfte, zu denen auch noch Enner Valencia, eine der Turnierentdeckungen bei den ausgeschiedenen Ecuadorianern (drei Tore) gehörte, den Abwehrspielern schwer, sich dagegen zu stemmen.

Sehnsuchtsort Rio de Janairo und das Endspielstadion Maracana.

Sehnsuchtsort Rio de Janairo und das Endspielstadion Maracana. (Bild: Keystone) (Bild: Keystone/FELIPE DANA)

Ihren qualitativen Sprung auf internationales oder Weltklasseniveau haben Südamerikas Powerkicker fast ausnahmslos in europäischen Spitzen- oder Mittelklasseklubs geschafft. Sie wissen deshalb nur zu gut, dass sich ihre europäischen Kollegen besonders darauf verstehen, in entscheidenden Momenten eines Turniers zuzuschlagen.

Wie weit reicht die Furchtlosigkeit der Rebellen?

Wie weit also die Haltung etwa der chilenischen Muskelmachos, die laut Trainer Jorge Sampaoli «die Rebellen des Fussballs» sind, trägt, ist immer noch völlig ungewiss. Die Euphorie, nun auch noch den Jackpot abräumen zu können, ist im Augenblick noch so gross wie die Furchtlosigkeit vor «grossen Tieren».

Die hat Costa Ricas Trainer Jorge Luis Pinto, der mit seinem Team die grösste Überraschung schaffte, als er den Sieg in der Gruppe D mit Erfolgen über Uruguay und Italien und einem Remis gegen England schaffte, in diesem Satz verpackt: «Je wilder der Stier, desto besser der Stierkampf.» Die Corrida geht weiter – vom Samstag an in den Achtelfinals. Dann wird der eine triumphieren und der andere am Boden liegen.

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