Am Donnerstag gibt Joachim Löw das vorläufige Kader für die WM bekannt. Der deutsche Nationaltrainer hat einige Problemzonen zu besetzen in einer Mannschaft, die vielen immer noch als WM-Favorit gilt.
Es gab Wochen, da hätten die WM-Kandidaten von Joachim Löw keine Nationalelf, sondern ein Patientenkollektiv bilden können. Die Lage hat sich 40 Tage vor dem ersten WM-Spiel der Nationalmannschaft gegen Portugal (16. Juni) etwas entspannt, das Lazarett hat sich signifikant geleert, doch wenn sich an diesem Mittwoch Bundestrainer Löw und seinen engsten Mitarbeiter in Frankfurt zu einer Klausurtagung treffen, sind die Personalsorgen immer noch beträchtlich.
In Zürich wird Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld kommenden Dienstag, 13. Mai (11.00 Uhr) sein, wie der SFV mitteilt, «definitives» WM-Kader bekanntgeben. Bis zur endgültigen Deadline der Fifa am 2. Juni können jedoch noch Veränderungen vorgenommen werden. Vom 20. bis 22. Mai in Feusisberg und vom 25. Mai bis 4. Juni in Weggis bereitet sich die Auswahl auf die WM vor. In Luzern spielt sie vor der Abreise am 6. Juni zwei Testspiele gegen Jamaika (30.5.) und Peru (3.6.).
» Das WM-Spezial des SFV
Löw und seine Assistenten Hansi Flick und Andreas Köpke haben 30 Spieler zu bestimmen, die am Donnerstag in der DFB-Zentrale bekanntgegeben werden und am 13. Mai bis Mitternacht – wenige Stunden nach dem Testspiel am Dienstag gegen Polen in Hamburg – dem Internationalen Fussball-Verband (Fifa) als vorläufiges WM-Kader offiziell vorzulegen ist.
Die Möglichkeit, sieben Spieler mehr als im endgültigen WM-Aufgebot benennen zu können, bewahrt Löw bis zum Meldeschluss am 2. Juni vor sofortigen unangenehmen Entscheidungen. Fast ein Dutzend Spieler suchen nach langwierigen Verletzungen noch ihre Form. Der Begriff «Spielpraxis« ist für mehrere als klare WM-Kandidaten gehandelte Spieler seit vielen Wochen in ihren Clubs ein Fremdwort geworden. Wie für Sven Bender, Marcel Schmelzer (beide Dortmund), Benedikt Höwedes (Schalke) oder Marcell Jansen (Hamburg).
Es herrscht der Stürmer-Notstand
Aber es gibt auch positive Nachrichten von Ex-Patienten. Mesut Özil ist bei Arsenal zurückgekehrt, wo Lukas Podolski gute Leistungen zeigt, wie auch Andre Schürrle bei Chelsea, wenn er spielen durfte. Bastian Schweinsteiger bei den Bayern und Mats Hummels bei Dortmund haben sich in eine ordentliche Form hineingesteigert. Doch in dem Sektor, wo die Tore gemacht werden, herrscht der Notstand.
Denn Mario Gomez ist bisher nach permanenten Verletzungen nicht auf die Beine gekommen, seine grossen Hoffnungen mit Florenz am vorigen Sonntag das Pokalfinale gegen Neapel zu bestreiten, haben sich zerschlagen. Nur 900 Minuten, die Dauer von gerade zehn Spielen, hat der 28-Jährige in dieser Saison bestritten. Miroslav Klose, der ebenfalls ein Dauerpatient war, hat am Montag wenigstens wieder für 18 Minuten bei Lazio Roms 3:3 gegen Verona gespielt, wobei er einen Elfmeter rausholte.
Stehen Klose und Gomez den WM-Stress durch?
«Bei der WM werde ich topfit sein», hatte Klose Anfang März voller Zuversicht angekündigt, war dann aber wieder in den Krankenstand gewechselt. Löw hofft inständig, dass der Routinier, der kurz vor dem WM-Start 36 Jahre alt wird, in seiner Brasilien-Elf stehen wird. Wie der inzwischen sehr verletzungsanfällige Stürmer aber bis zu sieben WM-Spiele unter extremen Bedingungen durchstehen soll, dürfte eines der grossen deutschen WM-Rätsel werden.
Gomez wird Löw äusserst ungern fallen lassen, weswegen der an Knieproblemen laborierende Torjäger eventuell im Südtiroler Trainingslager ab dem 21. Mai nachweisen darf, dass er einen Platz im Brasilien-Reisetross verdient hat. Weil es aber fraglich ist, ob die beiden Topstürmer in einen optimalen WM-Zustand kommen, steigen die Chancen des Gladbachers Max Kruse trotz zwischenzeitlich deutlich abgeflachter Formkurve. Der Hoffenheimer Kevin Volland, schon wiederholt vom Bundestrainer erwähnt, ist ein anderer Kandidat.
Auf dem Papier ein Top-Team, doch die Realität sieht anders aus
Löw hat die Massstäbe hoch angesetzt, die er nun brechen muss. Er hat bereits vor dem letzten WM-Testspiel Anfang März gegen Chile in Stuttgart ausdrücklich betont, nur Spieler mit zur WM zu nehmen, die den zu erwartenden enormen Belastungen gewachsen sind. «Auf dem Papier haben wir eine Topmannschaft, aber die Realität sieht anders aus», sagte Löw vor der Partie, die mit Ach und Krach mit 1:0 gewonnen wurde.
«Wir haben einige Spieler, die über Monate verletzt waren. Wir haben einige, die in keinem guten Spielrhythmus sind. Wir haben einige Spieler, die mit der Form kämpfen, und wir haben einige, die mit kleinen Verletzungen zu kämpfen haben», erklärte Löw damals. Zwei Monate danach hat sich an dieser sehr durchwachsenen Zwischenbilanz kaum etwas verändert. Und der drittletzte WM-Test gegen Polen am kommenden Dienstag ist genau genommen eine Farce, weil Löw ein B-Team aufstellen muss.
Mindestens 18 seiner wichtigsten WM-Kandidaten sind gar nicht dabei: Die Bayern und Dortmunder wegen des DFB-Pokal-Endspiels, die drei Arsenal-Profis wegen des englischen Cupfinales und mit Gomez, Klose und Sami Khedira werden auch die grössten Sorgenkinder fehlen, weil noch Ligaspiele in Italien und Spanien anstehen.
Khedira gehörte zwar Sonntag erstmals wieder zum Kader von Real Madrid, nachdem er sich im Länderspiel in Italien im November das Kreuzband gerissen hatte. Nun muss der von Löw als Schlüsselspieler bezeichnete «Sechser» wieder Spielpraxis bekommen, wofür nur die letzten WM-Test gegen Kamerun (1. Juni) und Armenien (6. Juni) in Frage kommen.
Weil 90 Prozent seiner Stammspieler beim Benefizspiel gegen Polen fehlen, wird Löw am Donnerstag neben dem provisorischen 30er-WM-Kader wohl noch ein Perspektiv-Aufgebot benennen – mit meist jungen Spielern, die ihre Eignung für die Zeit nach der WM in Hamburg unter Beweis sollen.
Bayerns Fehltritt ist ein Segen für Löw
Dass Bayern München das Endspiel der Champions League nicht erreichte, ist ein Segen für Löw, denn damit stehen alle Spieler für das Trainingslager vom 21. bis 31. Mai zur Verfügung, anders als zuletzt vor den Turnieren 2010 und 2012. Eventuell 26 oder 27 Spieler könnten mit ins Passeiertal, was zur komplizierten Aufgabe führt, wieder einige Kandidaten aussortieren zu müssen.
Diesmal ist die U20-Nationalmannschaft als Sparringspartner für Trainingsspiele dabei, womit Löw auch in deren Reihen noch WM-Fahrer wie das Supertalent Julian Brandt unter die Lupe nehmen könnte. Doch Leverkusen warnt, der gerade 18 Jahre alte gewordene Mittelfeldspieler könne «verheizt« werden.
Spannend wird die Torwart-Entscheidung. Wer begleitet Manuel Neuer und Roman Weidenfeller, die zuletzt beide nicht ihr höchsten Niveau erreichten? Rene Adler (Hamburg) und Ron-Robert Zieler (Hannover), die lange als recht sichere Brasilien-Fahrer galten, schwächelten, während sich Bernd Leno (Leverkusen) mit glänzenden Auftritten in den Blickpunkt schob. Er wäre allerdings anders als Marc-Andre ter Stegen (Gladbach) ein echter Neuling. Löw und sein Team haben in den nächsten vier Wochen ein schweres Personalpuzzle zusammenzufügen.
Tor: Neuer (München), Weidenfeller (Dortmund), Leno (Leverkusen).
Abwehr: Lahm (München), Hummels (Dortmund), Mertesacker (Arsenal), Boateng (München), Schmelzer (Dortmund), Höwedes (Schalke).
Mittelfeld und Angriff: Grosskreutz (Dortmund), Jansen (Hamburg), Reus (Dortmund), Schweinsteiger (München), Khedira (Real Madrid), Özil (Arsenal), Müller (München), Götze (München), Podolski (Arsenal), Lars Bender (Leverkusen), Kroos (München), Schürrle (Chelsea), Klose (Lazio Rom), Kruse (Mönchengladbach).
Weitere Top-Kandidaten: Sven Bender (Dortmund), Draxler (Schalke), Gomez (Fiorentina).
Aussenseiterchancen: Westermann (Hamburg), ter Stegen (Mönchengladbach), Brandt (Leverkusen) Sam (Leverkusen).
Potenzielle Überraschungen: Durm (Dortmund), Ginter (Freiburg).