Mit den Titeln in den ersten beiden Entscheidungen der Weltmeisterschaften in Italien hat sich die Bernerin Judith Wyder ins Rampenlicht katapultiert und weckt bereits Erinnerungen an die 23-fache Weltmeisterin Simone Niggli-Luder.
Es war ein eindrückliches Bild im strömenden Gewitterregen auf der Piazza del Duomo in der italienischen Provinzhauptstadt Trento: «Judith Wyder is still in front», orientierte der Speaker, als die Bernerin im Zieleinlauf frenetisch bejubelt auftauchte. Wenig später war’s geschafft. Der erste Mixed-Staffel-Titel auf dem Innenstadtkurs im Trockenen. Freudestrahlend wurde die 26-Jährige von ihren Teamkollegen Rahel Friederich, Martin Hubmann und dem Möhlemer Matthias Kyburz empfangen.
Für Judith Wyder war es die zweite Goldmedaille innert dreier Tage. Weltmeisterin geworden war die Bernerin schon am Samstag im Sprint von Venedig. Und jetzt hielt sie freudestrahlend fest: «Diese Weltmeisterschaften hätten kein My besser beginnen können, ich kann mich bereits jetzt über eine perfekte WM freuen.»
Gestillt ist der Hunger aber noch nicht. Vielmehr sagt sie: «Jetzt kommt der Wald, und Orientierungslauf im Wald ist etwas Wunderbares.» Die Langdistanz am Mittwoch und die Staffel am Samstag wird sie ebenfalls bestreiten. Und die Aussicht, dass Judith Wyder zur noch grösseren Figur dieser Titelkämpfe aufsteigt, scheint realistisch.
Gezielte Anstrengungen
Eine solche Perspektive gab es vor wenigen Monaten noch nicht in dieser Form. Als Simone Niggli vergangenen Herbst ihren Rücktritt gab – sie, die grosse Figur des Orientierungslaufs, die von 2001 bis 2013 23 Weltmeistertitel gesammelt hat – war von einer Riesenlücke die Rede. Und beim letzten internationalen Auftritt Nigglis wurde Judith Wyder als potenzielle Nachfolgerin gepriesen.
Etwas gar optimistisch schien die Ankündigung. Einen Staffel-Weltmeistertitel 2012, WM-Bronze 2011 und Staffel-Bronze 2013 führte die 26-jährige Hoffnungsträgerin bis anhin im Palmarès. Ein Auf und Ab prägte bis dahin ihre Karriere. Doch während Niggli ihr letztes Rennen, den Weltcup in Baden, gewann und «einen Karriereabschluss wie im Märchen» feierte, sorgte Wyder mit Rang zwei für einen Schweizer Doppelsieg.
Mit Ruhe, Geduld und harter Arbeit hat sich Judith Wyder zur Siegläuferin entwickelt.
Zwischen letztem Herbst und diesem Frühling hat sich Judith Wyder selber zur Siegläuferin entwickelt. OL-technisch konnte sie den vor rund drei Jahren eingeleiteten Prozess hin zu grösserer Stabilität fortsetzen. Mehr Ruhe und Geduld bringt die nunmehr 26-Jährige auf. Nicht zuletzt die intensive Zusammenarbeit mit der Sportpsychologin Andrea Binggeli beginnt sich auszuzahlen.
Dank grösseren Trainingsumfängen legte sie auch physisch zu und entschied den Altstadt-Grand-Prix von Bern für sich. Und sie kann sich ausreichend Regenerationszeit gönnen. Ihre Teilzeitanstellung als Physiotherapeutin in Birsfelden hat sie von März bis Ende August unterbrochen, ihr Arbeitgeber, das Vitaliscenter versteht das als Beitrag zu Wyders Sponsoring.
Vroni König, die Frauen-Nationaltrainerin, nimmt Wyders Werdegang mir grosser Freude zur Kenntnis. «Talent ist das eine», sagt sie, «aber wie Judith in den letzten Jahren enorm hart an sich gearbeitet hat, beeindruckt mich. Nun lassen sich die Früchte ernten.» Als Wyders grösste Leistung schätzt die Sprint-Weltmeisterin von 2001 das Arbeiten an den eigenen Schwachstellen ein. Noch sei sie nicht absolut sattelfest, noch keine Serien-Siegläufern, aber: «Bemerkenswert, wie sie das hingekriegt hat, ist es allemal.»
Orientierungs- statt Langlauf
Jetzt ist Judith Wyder endgültig in der Weltelite angekommen. Dabei war vor noch nicht allzu langer Zeit der Fokus auf den Orientierungslauf nicht festgelegt. Trotz OL-begeisterter Familie schenkte sie dem Langlauf und dem Ski-OL denselben Stellenwert. Am schwedischen Sportgymnasium in Mora waren die jetzigen Olmypia-Medaillengewinner Anna Haag und Emil Jönsson Gymnasiumkollegen, mit denen sie immer noch Kontakt pflegt.
Mehr zuhause fühlte sie sich schliesslich dennoch im Orientierungslauf, vor allem wegen den Kolleginnen und Kollegen. Und heute bereut sie nichts. «Wer ist in der Schweiz von meiner damaligen Generation im Langlauf noch aktiv?» fragt sie. Im Gegensatz zum OL findet sie niemanden. Das Langlaufen schätzt sie heute als «ideale Trainingsform im Winter».
Dem Vergleich mit Simone Niggli weicht Judith Wyder aus. «Diese Gegenüberstellung ist für mich kein Thema, scheint aber eines vor allem für die Medien.» In Kontakt stünden sie nach wie vor, redeten zusammen, aber «OL machen muss ich selber». Und ausdrücklich schätzt sie die Kolleginnen, die dies ebenfalls auf oberstem Niveau tun. «Wir haben nach dem Rücktritt von Simone alle zusammen Verantwortung übernommen.»