Nur Lindsey Vonn, die ihren 50. Sieg im Ski-Weltcup feierte, war bei der Abfahrt von Garmisch-Partenkirchen schneller als die Schweizerin Nadja Kamer. Ein frostiger Bericht aus der Tiefkühlkammer in den Alpen.
Es gibt Kälte, die kann man nicht beschreiben, die muss man gespürt haben. Am eigenen Leib, mit Haut und Haaren und in natura, an einem Samstag-Vormittag im schattigen Zielstadion der Kandaharabfahrt von Garmisch-Partenkirchen, wo die sibirische Kälte einen Zweitwohnsitz hat. Dieter heisst das gemeine Kältehoch, das Europa seit Tagen mit Tiefsttemperaturen in Atem hält.
In Garmisch ist Dieter an diesem Wochenende ganz besonders gut in Form. Die Kälte kommt schleichend, sie frisst sich von unten durch die Thermosohlen und lässt sich auch vom Schaffell nicht aufhalten. Sie kriecht empor, vorbei an der langen Unterhosen, sie nistet sich ein unter der Daunenjacke, bis sie schliesslich irgendwann vom ganzen Körper Besitz ergriffen hat. So ist es allen ergangen, jedem einzelnen der bewundernswert widerstandsfähigen 3000 Zuschauern, die bei 25 Grad unter Null live die Damen-Abfahrt verfolgten.
Bei 120 km/h gefühlt minus 40 Grad
Dabei waren die kälteresistenten Besucher im Ziel ja noch privilegiert. Verglichen mit den Läuferinnen, die in ihren dünnen Rennanzügen den Kampf gegen die Piste und die tiefen Temperaturen aufnehmen mussten. Bei Geschwindigkeiten um die 120 km/h, so haben die Trainer errechnet, fühlt es sich im Fahrtwind wie bei Minus 40 Grad an. Die Abfahrt wurde deshalb zum Maskenball, jede Läuferin hatte ihr persönliches Rezept zur Frost-Bewältigung.
Die Schweizerin Fränzi Aufdenblatten etwa griff zur Neoprenmaske, andere wie die Liechtensteinerin Tina Weirather schmierten sich zum Schutz vor der Kälte dicke Schichten Fettcreme auf die Wangen, und manche verklebten sich das Gesicht kurzerhand mit bunten Tapebändern. Ja, und dann gab es dann auch noch wagemutige Läuferinnen, wie die amtierende Abfahrts-Weltmeisterin Elisabeth Görgl (Ö) oder die Norwegerin Lotte Smiseth Sejersted, die völlig cool blieben und überhaupt ganz auf Masken und Klebestreifen verzichteten.
Vonn: Eigentlich im falschen Sport
Für Lindsey Vonn käme so was nie in Frage. So freizügig sich die US-Speed-Queen privat gibt – zuletzt posierte sie für das Sportweek-Magazin der Gazzetta dello Sport im BH und in kessen Highheels – so verschlossen ist sie, wenn sie bei Minusgraden auf die Piste muss. «Ich hasse die Kälte», hatte die 27-Jährige in den letzten Tagen in Garmisch mehrfach gejammert, «ich habe mir eigentlich die falsche Sportart ausgesucht.»
Vielleicht war sie deshalb gestern in der Kandahar-Abfahrt wieder so rasant unterwegs, weil sie diese «Qual» bei 25 Grad unter Null möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Vonn, die ihr Gesicht hinter einer dicken, schwarzen Wollmaske versteckte, war ganz in ihrem Element und ganz die Alte und stellte einmal mehr nachhaltig unter Beweis, dass ihr in der Abfahrt keine Läuferin die Show stehlen kann. Als sie dann nach 105 Sekunden Fahrzeit im Ziel abschwang, war bei der Amerikanerin nichts mehr zu sehen von Kälteschock. Sie reckte die Faust in die Höhe, riss sich zufrieden die Maske vom Gesicht und präsentierte ihr strahlendes Siegerlächeln.
Kamer bibbernd auf Platz 2
Hinter ihr, abseits der Kameras, hatte eine andere Läuferin allen Grund zum Lachen. Nadja Kamer war endlich erlöst, fast eine halbe Stunde war die Schweizerin in der Eiseskälte in der Siegerbox gestanden, die für die Führende reserviert ist. Mit Startnummer 3 hatte die 25-Jährige eine fabelhafte Bestzeit markiert, an der eine Favoritin nach der anderen gescheitert war. Mit jeder Konkurrentin, die hinter ihr blieb, wurde das Lächeln der Schweizerin grösser, aber freilich auch die Kälte schlimmer. Kamer war sichtlich nicht unglücklich, als sie schliesslich von Lindsey Vonn abgelöst wurde.
Der Speed-Expertin ist ein beeindruckendes Comeback im Weltcup geglückt: wegen einer Verletzung war sie erst im Jänner in den Weltcup-Zirkus wieder eingestiegen, nach dem zwölften Platz von St.Moritz raste die 25-Jährige nun auf den zweiten Platz und stellte damit ihre beste Platzierung ein. So nebenbei sprang sie auch noch erfolgreich für ihre Teamkollegin Fabienne Suter in die Bresche, die auf Grund einer Knieverletzung die Saison vorzeitig beenden musste.
Weirathers Lohn für Beharrlichkeit
Nadja Kamer teilte sich das Siegespodest mit einer Läuferin, die sich nur zu gut in die zweitplatzierte Schweizerin hinein fühlen konnte. Auch Tina Weirather (Liechtenstein) hatte in ihrer Laufbahn schon etliche Rückschläge einstecken müssen, auch sie hat sich nach einer Knieverletzung wieder empor gearbeitet. Die 22-jährige Liechtensteinerin, Tochter von Abfahrtsweltmeister Harti Weirather (Ö) und Olympiasiegerin Hanni Wenzel (FL), hatte sich in ihrer jungen Karriere bereits vier Mal das Kreuzband gerissen, aber trotzdem nie aufgesteckt.
Der Lohn der Einzelkämpferin, die zusammen mit den Schweizerinnen trainiert, sind Spitzenergebnisse in den Speed-Disziplinen, in Garmisch fuhr die ehemalige Juniorenweltmeisterin nun bereits zum dritten Mal in diesem Winter in die Top 3 und stiehlt damit weiter dem Schweizer Jungstar Lara Gut die Show, die in dieser Saison nicht auf Touren kommen will (20. in Garmisch).
Vonns Überlegenheit
Doch der Weltcup wird in diesem Winter überstrahlt von Lindsey Vonn, der man schon jetzt zum Gewinn der grossen Kristallkugel gratulieren kann. Zu gross ist die Dominanz der 27-Jährigen, zu übermächtig ist sie in Abfahrt und Super G für die Konkurrentinnen, die zumeist zu Statisten degradiert werden. Mit ihren 41 Hunderstelsekunden Rückstand ist Nadja Kamer der US-Amerikanerin in Garmisch so nahe gekommen wie keine andere Läuferin.
Wenn immer Vonn heuer eine Abfahrt gewonnen hat (4 von 6) lag sie am Ende mindestens eineinhalb Sekunden vor der ersten Verfolgerin. Die Vormachtstellung ist beeindruckend, wie die Statistik nachhaltig beweist: Allein auf ihre Erzrivalin Marie Höfl-Riesch fuhr Vonn in fünf Abfahrten einen Vorsprung von 7,15 Sekunden heraus. Rechnet man auch noch die 4 Super G’s hinzu, von denen Vonn heuer drei gewonnen hat, hat Höfl-Riesch auf die Konkurrentin über zehn Sekunden eingebüsst, also im Schnitt 1,2 Sekunden pro Rennen.
Vreni Schneiders Marke wackelt
Längst ist Lindsey Vonn drauf und dran die Bestenliste im Frauenskisport auf den Kopf zu stellen und die Allzeit-Rekorde zu brechen. Der Triumph von Garmisch war für die 27-Jährige ein Jubiläums-Sieg, inzwischen hält sie bereits bei 50 Weltcup-Erfolgen (25 in der Abfahrt, 17 im Super G, 1 im Riesenslalom, 2 im Slalom, 5 in der Kombination) und ist in der ewigen Bestenliste schon die Nummer drei.
Dementsprechend gerührt war die Amerikanerin nach dem Erfolg in Garmisch. Vonn hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken, «50 Siege sind ein Wahnsinn, ich kann das noch gar nicht richtig glauben», stammelte sie im Ziel mit gebrochener Stimme in die Mikrofone. Doch ihr Hunger nach Siegen und Rekorden ist damit noch lange nicht gestillt, schon hat Vonn die nächste Bestmarke und Konkurrentin im Visier.
Die Schweizerin Vreni Schneider hält bei 55 Weltcupsiegen, es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Vonn auch die Slalom- und Riesenslalom-Spezialistin überflügelt hat, und auch die Nummer 1 der Rangliste, die Österreicherin Annemarie Moser-Pröll (62 Weltcupsiege) muss sich langsam ernsthafte Sorgen um ihre Pole Position machen. Denn wie meint Lindsey Vonn doch gleich: «Rekorde sind mir wichtig.»