Die Leichtathtletik-Schweiz schaut heute Abend nach Zürich, wo im Letzigrund ein Ausnahmetalent nach den Sternen greift. Der Thurgauer Kariem Hussein steigt als Mitfavorit ins EM-Final über die 400 Meter Hürden.
«Zeit zum Träumen? nein. Nicht jetzt», hielt Kariem Hussein beim Start in die EM-Woche fest. Er wolle «die mögliche Leistung abliefern» und «das von mir Verlangte erfüllen», umschrieb der 25-jährige Thurgauer aus Tägerwile sein Ziel. Was auf einen einfachen Nenner gebracht hies: ins EM-Finale vorstossen. Dann, so sagte er, «dann kann ich anfangen zu träumen.»
Ab 18 Uhr werden zehn Medaillensätze an der EM in Zürich vergeben. Um 20.25 Uhr läuft Mujinga Kambundji den 200-Meter-Final der Frauen; um 20.52 Uhr steht der Endlauf für Kariem Hussein über 400-Meter-Hürden an.
Zusammen mit den sieben weiteren EM-Finalisten wird Kariem Hussein heute Abend im Final laufen. Vom Träumen sprach Hussein aber auch am Vortag im Schweizer Teamhotel in Regensdorf nicht. Aber er sagte: «In diesem Final ist alles möglich.»
Ein taktisch kluges, rhythmisches Renne will er laufenn, bei dem er auf den letzten 150 Metern mit den Hürden 8, 9 und 10 noch über Kraft verfügt, um an den Widersachern vorbeizuziehen, ihnen möglichst allen den Meister zu zeigen. Bereits eindrücklich geglückt ist ihm dies in Vorlauf und Halbfinal mit zwei Siegen.
In die vordersten Favoritenpositionen geschoben hat sich Hussein am Mittwoch. Wegen eines Misstritts kam er auf der ersten Streckenhälfte nicht wunschgemäss in Fahrt. Bei 23,80 Sekunden passierte er die 200-Meter-Marke. Eine halbe Sekunde langsamer ist dies als zuletzt, schier eine Sekunde schneller ist er auch schon angegangen.
Hussein aber hatte sich durch das Ausserplanmässige nicht irritieren lassen und legte eine perfekte zweite Streckenhälfte zu seinen 49,18 auf die Bahn. «Eine Differenz von 1,44 Sekunden für die beiden Abschnitte, das ist absolute Weltklasse», sagte Trainer Flavio Zberg, «das zeigt, dass Kariem völlig unterschiedlichen Renngestaltungen gewachsen ist.»
Husseins Fussball-Vergangenheit
Diese Fähigkeit deutet auf das Talent. Ein Talent, wie es dem Chef Leistungssport von Swiss Athletics, Peter Haas, zuvor kaum je begegnet ist. Und ein Talent, das den Aufstieg in die europäische Elite innert nur fünf Jahren schaffte. Hussein spielte bis 19 Fussball mit Perspektiven. Hätte er aber weiterkommen wollen, wäre es nötig gewesen, kompromisslos auf den Fussball zu setzen.
Das wollte er nicht. Nach der Matura steuerte er vielmehr das anspruchsvolle Medizinstudium an. Und weil er bei den Mittelschulmeisterschaften unter anderem 2,01 Meter im Hochsprung überquert hatte, zeigte sich plötzlich eine Alternative: die Leichtathletik.
Werner Dietrich, der einstige Förderer von Kugelstoss-Mehrfach-Weltmeister Werner Günthör, nahm sich Neu-Leichtathlet Hussein an. 2008 war das, und der 19-Jährige hatte eine fixe Idee: den Zehnkampf. In der Folge brauchte es etliche Stunden, Diskussionen und Argumente, um Hussein von diesem, ebenfalls kaum mit einem Medizinstudium zu verbindenden Weg abzubringen und ihm die lange Hürdenstrecke schmackhaft zu machen.
Peter Haas, früher selbst auf diese Distanz spezialisiert, nahm sich ihm persönlich an, weil der Leistungssportchef von Swiss Athletics beeindruckt war von Talent, körperlicher und koordinativer Voraussetzungen, mentaler Fähigkeiten, Willen, Zielorientiertheit und den langen Beinen. Während der drei ersten Studienjahre in Fribourg kümmerte sich Haas um das Juwel – in einer ungewöhnlichen Doppelfunktion als Verbandsfunktionär und Coach.
Steiler Aufstieg
Die Hoffnungen erfüllten sich. Die Leistungen Husseins verbesserten sich markant. Von 52,33 Sekunden (2009), über 51,62, 50,09 auf 49,62 Sekunden im Jahr 2012 ging es aufwärts. Hussein qualifizierte sich für die Olympischen Spiele in London, musste jedoch wegen eines Ermüdungsbruches Forfait erklären.
Selbstkritisch hält Haas heute fest: «Anfangs ist es fast zu schnell aufwärts gegangen. Seit Hussein fürs Studium nach Zürich gezogen ist, kümmert sich Hürden-Nationaltrainer Flavio Zberg um ihn. Professionell. In jedem Training leitet er an und bringt die in dieser technisch komplexen Disziplin wichtige Aussensicht ein.
Und es ging weiter aufwärts, vor allem in dieser Saison: 49,38 Sekunden, 49,33, 49,24, 49,16 und 49,08 sind die bis jetzt fünf besten Zeiten. Eine ausserordentliche Konstanz, welche die Fortschritte unterstreicht. Was noch fehlt ist der Ausreisser nach oben oder wie es Hussein formuliert: «Ein Rennen, bei dem alles zusammenpasst.»
Zur Einordnung: Schneller gelaufen ist in der Schweiz bisher einzig Marcel Schelbert in 48,14 Sekunde, eine Leistung, mit der der Zürcher 1999 WM-Bronze gewann.
Und jetzt also der Final für Hussein: Vier Widersacher sind in dieser Saison schon schneller gelaufen: Rasmus Mägi (Est/48,54), Timofey Chalyy (Rus/48,69), Denis Kurdryavtev (Rus/48,95), Franz Felix (D/48,96). Oskari Mörö (Fin) weist genau die gleiche Zeit wie Hussein auf – 49,08 Sekunden. Und Varg Königsmark (D/49/12) und Emir Bekric (Srb /49,21) liegen nur wenig zurück. Kariem Hussein darf träumen.