Kein Deutscher, kein Amerikaner, aber zwei Schweizer – selbstverständlich

Roger Federer und Stanislas Wawrinka stehen in den Viertelfinals der US Open. Das überrascht in der Tenniswelt niemanden mehr. Die beiden Ausnahmekönner, aber auch die erfolgreichen Schweizer Frauen stehen für eine fabulöse Ära eines kleines Landes in einer Weltsportart.

Sep 7, 2015; New York, NY, USA; Roger Federer of Switzerland (left) shakes hands with John Isner of the United States after their match on day eight of the 2015 U.S. Open tennis tournament at USTA Billie Jean King National Tennis Center. Mandatory Credit: Jerry Lai-USA TODAY Sports

(Bild: Reuters/Jerry Lai)

Roger Federer und Stanislas Wawrinka stehen in den Viertelfinals der US Open. Das überrascht in der Tenniswelt niemanden mehr. Die beiden Ausnahmekönner, aber auch die erfolgreichen Schweizer Frauen stehen für eine fabulöse Ära eines kleines Landes in einer Weltsportart.

Als Roger Federer vor über einem Jahrzehnt seinen ersten US-Open-Titel holte, erschien in der «New York Post» die provozierende Schlagzeile: «Roger Who». Roger wer?

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Inzwischen kennen sie ihn mehr als gut im Big Apple, in ganz Amerika. Federer, einst ein anonymer Champion im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ist zum adoptierten Sohn geworden. Ein Welt- und Megastar besucht nun das Grand-Slam-Spektakel, einer, den sie so verehren, dass er wahre Menschenaufläufe verursacht, wenn er sich mit Frau und vier Kindern in den Wolkenkratzerschluchten Manhattans bewegt.

Ganz zu schweigen von der echten Liebe, die er im Billie Jean King Tennis Center erfährt, bei seinen Auftritten tags und nachts. Selbst wenn er gegen einen Ami wie John Isner siegt, so wie am Dienstag in der Abendshow.

In der Herrenkonkurrenz bis zum Schluss vertreten

Federer ist zum Phänomen der Open geworden. Aber das vielleicht noch grössere Phänomen ist das Land, aus dem der 17-fache Grand-Slam-Sieger stammt: Denn die kleine Schweiz mit ihren acht Millionen Einwohnern ist zu einer Weltmacht in einem Sport aufgestiegen, der den ganzen Globus umspannt – von Neuseeland bis Norwegen, von Kolumbien bis Kroatien.

Die Höhepunkte aus Federers Partie gegen John Isner im Achtelfinal:

Fast schon selbstverständlich wird hingenommen, dass zwei Schweizer Asse in der Herrenkonkurrenz stets bis zuletzt in der Pokalauslosung vertreten sind – neben Federer auch dessen einstiger Schattenmann Stan Wawrinka. «Ich schüttle selbst den Kopf, wenn ich sehe, was die Schweiz im Tennis für Erfolge produziert», sagt Federer.

Keiner aus dem Gastgeberland im Viertelfinal

Umso mehr, wenn man auf die Viertelfinalisten hier in New York schaut: kein Deutscher ist dabei, kein Australier, kein Brite, kein Russe. Und auch kein Amerikaner, keiner aus dem Gastgeberland. Keiner der Erben von Sampras, Agassi, Courier und Co.

Dafür aber Federer und Wawrinka, die Helden des letztjährigen und historischen Davis-Cup-Erfolgs der Schweiz. «Davor ziehe ich meinen Hut», sagt John McEnroe, früher mal der beherrschende Tennisspieler des Planeten, «das sind Ergebnisse, die fast verrückt sind.»

Von 331 auf 1

Zufall oder nicht: Vor den Augen einer staunenden Tennis-Öffentlichkeit spielt sich eine goldene Schweizer Ära ab. Oder «Wunderjahre», wie der Titel eines populären Buches von eidgenössischen Fachjournalisten lautet.

Denn auch bei den Damen vermeldet die Alpennation neuerdings wieder spektakuläre Erfolge und Siegerinnengeschichten, allem voran in Gestalt der schlagkräftigen 18-jährigen Teenagerin Belinda Bencic. Die frühere Nummer 1 bei den Juniorinnen wird in Expertenkreisen längst als kommende Gipfelbewohnerin auch bei den Profis gehandelt – umso mehr nach einem rasanten Vormarsch in dieser Saison bis auf Platz 12 der Tennis-Weltrangliste.

Die zurückgekehrte Nummer 5 der Nation

Bencic schaffte es in dieser Saison sogar als eine von nur zwei Spielerinnen, die allmächtige Serena Williams zu schlagen – auf dem Weg zum aufsehenerregenden Turniersieg in Toronto. Bencic hat eine kaum weniger erfolgreiche Weggefährtin in der Weltspitze: die 26-jährige Timea Bacsinszky, die vor zwei Jahren ihre Karriere beenden wollte.

Die Höhepunkte aus Wawrinkas Partie gegen Donald Young im Achtelfinal:

Und die 2015 plötzlich als French-Open-Halbfinalistin und Wimbledon-Viertelfinalistin grüsste. «Unglaublich», findet die aufgeweckte Bacsinszky das Schweizer Tennis-Gesamtkunstwerk: «Viele auf der Tour schütteln mit dem Kopf, fragen sich, wie das geht.»

Zumal ja auch schon die jüngste Nummer 1 aller Zeiten aus der Schweiz kam: jene Martina Hingis, die fünfte im Schweizer Bunde, die gerade wieder bei ihrem dritten Comeback serienweise grosse Doppeltitel abräumt.

Noch viele Jahre stehen an

Mit Bencic, Bacsinszky und Wawrinka können sich die Schweizer durchaus noch auf lange Jahre des Erfolgs freuen. Auch der 34-jährige Federer sieht das Ende seiner Karriere noch nicht gekommen, auch nicht mit den Olympischen Spielen des Jahres 2016.

«Ich arbeite und spiele so, als ob es noch lange weitergeht», sagt er. Federers Coach Severin Lüthi befindet, es gebe «nicht die geringste Notwendigkeit», einen Rücktritt ins Auge zu fassen: «Roger hat noch viel Gutes vor sich. Sein Leben als Tennisprofi macht ihm immer noch Riesenspass.»

Lüthi, neben seiner Funktion als Federers Trainer auch Davis-Cup-Captain, sieht einen Grund der wundersamen Schweizer Erfolgsgeschichte in der Grösse des Landes. Oder besser: in der fehlenden Grösse. «Der Druck in anderen Nationen auf Talente ist viel grösser als bei uns», sagt er, «einen Federer, eine Hingis kann man aber auch nicht auf Plan produzieren.»

Tennis, so Lüthi, «ist eine sehr individuelle Sache. Es kommt auf die Person, nicht zwangsläufig auf ein System an.»

Jammern bringt nichts

165 Einzeltitel haben Schweizer Tennisprofis gewonnen, Federer allein 87 davon. Natürlich, das weiss auch jemand wie der nationale Verbandschef René Stammbach, «wird das nicht so weitergehen. Das kann es ja gar nicht.»

Trotzdem bemüht sich seine Organisation gerade wieder um die Austragung eines Damenturniers, man will die Gunst der Stunde nutzen, mit Bencic, mit Bacsinszky. Weit in die Zukunft zu schauen und ewig zu jammern, dass «vielleicht alles anders und schlechter wird», sagt Federer, «bringt nichts. Man muss den Augenblick geniessen.»

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