Zum zweiten Mal ist Luiz Felipe Scolari Trainer von Rekordweltmeister Brasilien. Seine Mission: Den Titel holen, so wie 2002, nur diesmal bei der mit noch viel mehr Erwartungen befrachteten Heim-WM. Doch in London gibt die Seleçao bei einem 1:2 gegen England keine sonderlich erbauliche Figur ab.
Zaubern konnte an diesem Abend nicht ein einziger Brasilianer. Ronaldinho nicht, der nach einem Jahr Zwangspause sein Comeback in der Seleçao gab und dabei keine Sekunde an den altbrasilianischen Weltmeisterglanz des Titeljahrgangs 2002 erinnerte; Neymar nicht, der die Hoffnungen eines fussballverrückten Landes auf eine Wiederkehr früherer Grösse verkörpert; und auch nicht der auf die Kommandobrücke zurückgeholte Trainerzampano Luiz Felipe Scolari.
Zum Wiedereinstand im Londoner Wembleystadion musste er gleich mal eine 1:2-Niederlage gegen England, die erste seit 23 Jahren, kommentieren. Der 64 Jahre alte Fahrensmann aber lächelte am Mittwochabend im Wembleystadion entspannt über den missglückten Einstieg hinweg und erinnerte die nach Pleiten der Nationalmannschaft notorisch aufgeregten brasilianischen Journalisten in aller Ruhe an 2001.
Damals begann das erste Aufbauwerk des Nationaltrainers Scolari, als die Qualifikation für die WM in Japan und Südkorea wackelte, wie diesmal mit einem Fehlschlag, einem 0:1 gegen Uruguay. «Ich bin schon daran gewöhnt, meine Premieren zu verlieren», sagte der im November als Nachfolger des glücklosen Mano Menezes zurückgeholte Coach mit dem dünnen grauen Schnurrbart, «danach gewinne ich meistens die Spiele und auch schon mal Turniere.»
Zur Zeit fehlt der Seleçao – alles
Die Geschichte soll sich wiederholen, im Juli des kommenden Jahres, wenn Scolari sich an seinen eigenen Worten zu Beginn seiner zweiten brasilianischen Krönungsmission messen lassen muss: «Wir haben die Verpflichtung, den Titel zu gewinnen.» Noch dazu daheim, wo die Seleçao bei der WM zwischen Fortaleza im Norden und Porto Alegre zum sechsten Mal den globalen Fussballgipfel besteigen will.
Dazu fehlen ihr zurzeit Schuhe, Hüftgurte, Steigeisen und Kletterhelme, also alles, was der Kraxler braucht. Das Brasilien des Jahrgangs 2012 ist eher in der Tiefebene gelandet – frisch dokumentiert durch Weltranglistenplatz 18. So tief ist Südamerikas traditionelle Fussballvormacht noch nie gesunken – mit der Einschränkung, dass jedes Gastgeberlanf aufgrund fehlender Qualifikationsspiele Punkte in diesem Ranking verloren gehen.
Fürs erste täuschte Scolari, ein Mann mit dem Charisma eines furchtlosen Patrons, über die Schwierigkeit seiner Aufgabe hinweg, als er auf die fehlende Fitness jener sechs von ihm eingesetzten Profis verwies, die in der brasilianischen Liga ihr Geld verdienen. Sie haben, voran der mit 32 alternde Ronaldinho gerade erst ihre wochenlange Spielpause nach dem Ende des Campeonato Brasileiro hinter sich.
Ronaldinho taucht völlig ab
«Wir hatten körperliche Probleme», erklärte der Trainer die Unterlegenheit seines Aufgebots gegen die schnelleren, athletischeren und zielstrebigeren Engländer, für die Wayne Rooney (27. Minute) und Frank Lampard (60.) bei einem Gegentreffer von Fred (48.) die Tore schossen. Das hätte Ronaldinho auch schaffen können, als er zu einem Elfmeter nach Wilsheres Handspiel antrat (19.).
Davor hatte er zwar Neymar, den eigentlich für Strafstösse ausgeguckten Kollegen aus Santos einschüchtern können, nicht aber Englands Keeper Joe Hart, der sowohl Ronaldinhos Schuss parierte als auch bei dessen Nachsetzen zum Retter wurde. Von da an ward Ronaldinho nicht mehr gesehen.
Ihm folgte in der zweiten Hälfte in Lucas ein weiterer Jungstar nach, der keinerlei Eindruck hinterliess. Neymar dagegen hatte zumindest ein paar Tricks und Kunstschussversuche auf Lager, die aber nicht zur Stärkung seiner profillosen Mannschaft taugten. Brasilien verzichtete auf das in Europa auf hohem Niveau übliche Pressing und Gegenpressing und bot damit den Engländern Spielräume wie selten an. Die genossen diesen Abend, an dem der englische Fussballverband (FA) die Feierlichkeiten zu seinem 150.Geburtag einläutete.
Scolari muss sein Kunststück wiederholen
In Brasilien aber muss Scolari auf die Schnelle wie vor elf Jahren ein Kunststück vollbringen, für das ihm derzeit die Voraussetzungen fehlen: Es fehlt an Genies, die Spiele entscheiden, an Artisten, die für das Jogo bonito stehen, es fehlt aber auch an erstklassigen Zuarbeitern, die den Künstlern den Rücken freihalten.
Einen davon entdeckte Scolari sogar in London: den spätberufenen Dante. Und so lobte der Trainer den Abwehrchef des FC Bayern München perspektivisch: «Ich glaube», sagte Scolari, «wir haben einen weiteren sehr guten Innenverteidiger für die Zukunft gefunden.» An Arbeit wird es dem 29 Jahre alten Musterprofi aus Salvador de Bahia in dieser in London leicht zu zerbröselnden Defensive auch demnächst nicht mangeln. Er darf wiederkommen und will, «weiter hart arbeiten», um seine Chance zu nutzen.
Ein Dante allein aber wird nicht ausreichen, Brasilien zu neuer Grösse zu verhelfen. Gefragt ist der Zauberer Scolari. Der bat um ein wenig Zeit und möchte erst nach ein paar weiteren Spielen der Seleçao darüber urteilen, mit welcher Seilschaft er seine zweite WM-Gipfeltour in Angriff nehmen will. Zum letzten Hurra könnte es nach den Eindrücken von London für Scolaris alten Gefährten Ronaldinho nicht mehr reichen.
«Wenn er weiter an sich arbeitet, kann er wiederkommen», sagte Scolari zwar, doch seine Worte waren wohl eher beiläufig freundlich als wirklich verheissungsvoll gemeint.