Komplex und ungerecht

Der Radsport hat viele enttäuschte Liebhaber zurückgelassen. Und doch fasziniert er noch immer. Verteidigung einer Disziplin im Verruf.

«Wie in der Odyssee»: Für den französischen Philosophen Roland Barthes waren Radrennen Ereignisse von mythischer Qualität. (Bild: Epa/Ian Langsdon)

Der Radsport hat viele enttäuschte Liebhaber zurückgelassen. Und doch fasziniert er noch immer. Verteidigung einer Disziplin im Verruf.

Ein Gefühl der Ernüchterung hat den Radsport in den letzten rund 15 Jahren erfasst. Das hat mit Täuschung und Enttäuschung zu tun. Spätestens seit dem Festina-Skandal 1998, als ein gesamtes Team des Dopings überführt wurde, klingt es hohl, wenn der Ausgang von Radrennen mit der Leidensfähigkeit des Siegers erklärt wird. Dabei war es doch das von Medien und Zuschauern auf die Fahrer projizierte Leiden, das sich so facettenreich erzählen liess, das die schönsten Geschichten zu schreiben schien.

Im Grunde aber überdeckte jedes Heroisieren eines Coureurs, jedes Preisen seiner harten Arbeit und schieren Willenskraft, was den Radsport in Wahrheit so faszinierend macht. Das Leiden ist nicht die wahre, grosse Erzählung des Radsports. Zeit für eine Verteidigung einer in Verruf geratenen Disziplin.

Nein, im Radsport triumphiert nicht derjenige, der am meisten Schmerzen aushält und auch selten genug der vermeintlich Beste oder Kompletteste. Die Sache ist komplizierter. Vor dem Start in die Phase der Frühjahrsklassiker reicht zur Bestätigung ein Blick in die Siegerliste der vergangenen Saison: Mailand–San Remo gewann der Australier Matthew Goss, die Flandern-Rundfahrt der Belgier Nick Nuyens und Paris–Roubaix dessen Landsmann Johann Vansummeren. Alles Aussenseiter. Ausnahmen wie der Vielfrass des letzten Jahres, Philippe Gilbert, oder der siebenfache Tour-Sieger Lance Armstrong bestätigen die Regel.

Eine gute Form garantiert keinen Erfolg – im Gegenteil

Oft beeinflussen ganz andere als sportliche Faktoren den Verlauf von Klassikern und Rundfahrten. Ein platter Reifen oder ein Sturz kann im Nu alle Hoffnung ­zunichte machen. Da kann die ­monatelange Vorbereitung noch so minutiös gewesen sein, die Taktik noch so ausgereift.

Auch eine ausserordentliche Form garantiert nicht den erwünschten Erfolg, sie kann sogar hinderlich sein. Das musste nicht zuletzt Fabian ­Cancellara im letzten Frühjahr an eigener Haut erfahren. Das ganze Feld schien sich gegen den Schweizer verschworen zu haben, niemand wollte ihn auch nur einen Meter näher ans Ziel bringen. Er war schlicht zu fit, eine zu grosse Gefahr für die anderen.

Wie einfach gestaltet sich doch die Ausgangslage, wie wenig scheint oberflächlich betrachtet zu passieren: Möglichst kräftig in die Pedale treten, um möglichst schnell von A nach B zu gelangen. Aber so einfach ist die Gleichung lange nicht. Wenn etwa ein kleines Missgeschick wie ein Schaltfehler die grosse Tour de France entscheidet, wie es 2010 Andy Schleck unterkam. Oder das eigene Team lässt einen im Stich, man wird Opfer listiger Absprachen oder gar von Betrug. Vieles kann unterwegs schiefgehen. In keinem anderen Sport ist der Aufwand so immens und die Chance auf ein herausragendes Resultat so gering. Von dieser Diskrepanz lebt der Radsport. Er ist letztlich ungerecht. Harte Arbeit und grosses Leid werden nur selten belohnt.

Verworrene Suche nach Moral

Ebenso bleibt die Suche nach der Moral im Peloton verworren, Begriffe wie gut und böse sind nicht eindeutig zuzuordnen. Das ist gar nicht schlimm. Es hat seinen Charme, dass nur wenige Handlungen für Aussenstehende nachvollziehbar sind. Freundschaften und Feindschaften spielen eine Rolle, offene Rechnungen und geleistete Versprechen. So stellte der rachlüsterne Lance Armstrong, notabene im Gelben Trikot, während der Tour de France 2004 höchstpersönlich den ausgerissenen Filippo Simeoni. Der Italiener hatte zuvor vor Gericht erklärt, der Doktor Michele Ferrari habe ihm Epo zugesteckt. Und Ferrari war eben auch Armstrongs Vertrauensarzt, was wiederum ein schlechtes Licht auf den US-Amerikaner warf. Der Radsport ist voll solcher unschönen Geschichten, die mit der Vorstellung einer fairen Sportwelt kollidieren, in der alle die gleichen Chancen haben sollen.

All das gibt dem Radsport seine ureigene fiktionale Kraft. Seine Komplexität macht ihn zu einer Metapher für das Leben – und damit zum idealen Stoff für Erzählungen von gar mythischer Qualität. Die zeichnete den Radsport schon immer aus: Vor der Zeit von TV-Übertragungen war das Radrennen ein weisses Blatt, das erst beschrieben werden musste.

Für Zuschauer war viel mehr als ein kurzes Vorbeirauschen der Profis nicht wahrzunehmen, abgesehen von einzelnen Schwarz-Weiss-Fotografien. Wer mehr in Erfahrung bringen wollte, musste schon lesen. Erst die Journalisten machten aus dem Wettrennen eine zusammenhängende Geschichte. Und nahmen sich dabei alle Freiheiten. Erstaunlicherweise hat sich das auch mit der Verfügbarkeit von Live-Bildern nicht grundlegend verändert. Zum Radsport gehört die interpretierende Beschreibung einfach dazu.

Die Tour de France als Epos

Entsprechend hat der französische Philosoph Roland Barthes in den 1950er-Jahren die Tour de France als Epos von mythischer Dimension beschrieben. Als eine Aneinanderreihung von Aufgaben, die die Topographie der Rundfahrt den Fahrern stellt. Diese archaische Struktur gilt seit der Antike als Allegorie des Lebens selbst. «Wie in der Odyssee», schreibt Barthes, «ist das Rennen zugleich eine Rundreise mit Prüfungen und eine vollständige Erforschung der irdischen Grenzen.» Es gehört zur Faszination des Radsports, dass er zum Volk kommt, nicht umgekehrt. Die Rennen finden in der rauen Natur statt, führen durch von Dörfern gesäumte Täler und über karge Berge. Die Strecken sind nicht normiert, kaum gesichert.

Es ist eine immer wiederkehrende reale wie symbolische Eroberung der Landschaft, die das Fahrerfeld vollzieht. Die Protagonisten haben Abenteuer zu bestehen, ihre Schlacht des Lebens zu schlagen. Ist die Rundfahrt ein Epos, in welchem eine Etappe gemäss Barthes «die Einheit eines Romankapitels» bildet, dann ist das Eintagesrennen eine Novelle; ein geschlossener Rahmen, eine überschaubare Erzählung.

Kein Radsport ohne Doping

Bei aller schöngeistigen Verklärung: Radrennen sind schon immer ein durch und durch kapitalistisches Unterfangen gewesen. Deshalb gibt es den Radsport ohne Doping nicht – und hat es nie gegeben, seit seinem Bestehen im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht. Wer trotzdem weiterhin fasziniert von ihm bleibt, mag als verblendet bezeichnet werden.

Die andere Reaktion aber, das angewiderte Abwenden, ist scheinheilig. Nicht nur, weil Doping schon immer zur Kultur und Geschichte des Radsports gehörte. Auch, weil in jedem System, das ökonomische Anreize setzt, der Betrug angelegt ist. Das gilt für alle Mediensportarten, nicht nur für den Radsport.

Gewiss war der finanzielle Aspekt besonders früh ein zentraler Bestandteil des Radsports. Für Amateure gab es keinen Platz. Schon in seinen Anfängen professionell betrieben, hat der Radsport sich die Ideologie des fairen Sports nicht angeeignet und die Ideale der olympischen Bewegung ignoriert.

Kokain, Chloroform, Pillen – und das 1924

Der französische Reporter Albert Londres hat schon 1924 beschrieben, wie sich die «Zwangsarbeiter der Landstrasse» mit Kokain, Chloroform und sonstigen Pillen stärkten. Erst seit sich Teams und Verbände, auf Druck von Medien und Sponsoren, explizit gegen die Dopingpraktiken zu wenden scheinen, gewinnen auch die Olympischen Spiele unter den Athleten an Bedeutung. Dass ein Olympionike unter Radsportlern im selben Atemzug wie ein Weltmeister genannt wird, ist jedenfalls eine neue Entwicklung.

Bestimmt, der Radsport muss mit seiner Vergangenheit aufräumen, für einen sauberen Sport einstehen. Die olympische Sportmoral hat ihn also doch noch eingeholt. Die Gefahr, dass sie ihm seine Faszination nimmt, besteht hingegen nicht. Denn die eigentümliche Verbindung aus Natur und komplexer Erzählung, von welcher der Radsport lebt, wird ihn weiterhin tragen. Es ist eine Verbindung, aus der Mythen gemacht sind. Und ein echter Mythos ist nie zu Ende erzählt.

17. März Mailand–San Remo
23. März E3-Preis Flandern–Harelbeke
25. März Gent–Wevelgem
1. April Flandern-Rundfahrt
8. April Paris–Roubaix
15. April Amstel Gold Race
18. April Wallonischer Pfeil
22. April Lüttich–Bastogne–Lüttich

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16.03.12

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