Das Kleinstadion in Zilina und die 1:2-Niederlage gegen die Slowakei markiert einen weiteren Tiefpunkt beim entthronten Weltmeister Spanien, der auf dem Weg zur Verteidigung des EM-Titels in einer schweren Identitätskrise steckt. Und über allem schwebt mal wieder Torhüter Iker Casillas.
Unter der Woche gab Iker Casillas ein langes Fernsehinterview. Abgedunkeltes Licht, nur er, der Moderator und ein buchstäblicher reiner Tisch. Erstmals sprach der Torwart von Real Madrid über sein Martyrium der letzten Jahre, die Degradierung durch Ex-Trainer José Mourinho, die Intrigen im Klub, den Schmerz, von den eigenen Fans ausgepfiffen zu werden.
Von einer Zentnerlast habe er sich damit befreit, analysierte die Presse hinterher. Lächelnd wurde Casillas vor dem Länderspiel in der Slowakei auf den Titelseiten gezeigt. Jetzt würde es endlich wieder gut werden mit ihm und mit Spanien.
Der Glaube an eine Neuerfindung währte 17 Spielminuten und eine hervorragende Parade gegen eine Volleyabnahme von Robert Mak. Dann kehrten vor 9500 Zuschauern im kleinen Stadion von Zilina die Dämonen der Vergangenheit zurück.
Spanisches Harakiri
Casillas fing sich einen von Juraj Kucka mittig aufs Tor getretenen Flatter-Freistoss ein. Woraufhin die Spanier erst die Sicherheit, dann die Übersicht und schliesslich ihre Identität verloren: blind rannten sie an, 15 Eckstösse brachten keinen Torerfolg. Als sie der Schiedsrichter durch Anerkennung eines Abseitstreffers des eingewechselten Paco Alcácer zurück ins Spiel brachte (82.), waren ausser Gerard Piqué bereits alle Verteidiger ausgewechselt.
Mit ihrem einzigen Angriff der zweiten Halbzeit nutzte die Slowakei dieses Harakiri noch zum Siegtor. Gegen Miroslavs Stochs Kopfball aus der Nahdistanz drei Minuten vor Schuss wehrte sich Casillas schon gar nicht mehr.
Symbolisch: Das Desaster beginnt bei Casillas
Symbolischer geht es ja wirklich nicht mehr: Wie zuletzt bei der Weltmeisterschaft begann Spaniens Desaster also bei der Nummer Eins. Beim Captain und Rekordnationalspieler, dessen Glanzparaden im Elfmeterschiessen gegen Italien bei der EM 2008 sein Land über die zuvor jahrzehntelang unüberwindbare Hürde Viertelfinale hievten und damit eine unvergleichliche Erfolgsära einleiteten.
Vicente del Bosque – Spaniens Nationaltrainer an einem weiteren schwarzen Abend für das dominierende Fussballland der vergangenen Dekade. (Bild: Keystone/PETR DAVID JOSEK)
Einen WM- und zwei EM-Titel später verlor Spanien nun erstmals seit acht Jahren und 28 Partien wieder ein Qualifikationsspiel. Und da ein 1:2 in der Provinz gegen kampfstarke, aber limitierte Slowaken kaum weniger peinlich ist als ein 1:5 auf der Weltbühne gegen die Niederlande, schien es, als wolle der Fussball seine Lektion aus Brasilien noch einmal mit dem Vorschlaghammer einbimsen: Die spanische Epoche ist vorbei.
«La Roja lebt nur noch in der Vergangenheit»
So sehen sie das jedenfalls in Spanien selbst. «Weiter auf der Intensivstation» wähnt «Marca» die Landesauswahl, «für ‚La Roja‘ ist die Uhr stehen geblieben, sie lebt nur noch von der Vergangenheit», leitartikelt «Sport».
Die noch vor wenigen Monaten schier unbezwingbare Elf ist in einer Dynamik angelangt, die Sportler fürchten wie nichts anderes: sie gewöhnt sich an das Verlieren. Ein bisschen Verunsicherung, ein bisschen Konzentrationsverlust, ein unbewusstes Abschlaffen, ein schleichender Fatalismus: kein Glück und dann kommt auch noch Pech dazu – man kann diesen Prozess gar nicht so genau erklären. Gerade das macht ihn so gefährlich.
Der Schrei nach Veränderung
Gegen so eine Kultur der Niederlage hilft nach herkömmlichem Verständnis nur ein Neustart. Tatsächlich konnte man dieses Spiel geradezu als Schrei nach Veränderung deuten. Just Torschütze Alcácer hatte als einziger von vierzehn eingesetzten Akteuren nicht im WM-Kader gestanden. Von den 2013 erfolgreichen U21-Europameistern spielte nur Mittelfeldmann Koke.
Ein Kolumnist der Zeitung «As» verfasst einen flammenden Appell an Nationalcoach Vicente del Bosque: «Revolutionen sind schwierig und schmerzhaft. Aber wir müssen uns trauen, mit fliegenden Fahnen unterzugehen. Sonst enden wir wie das Bildnis des Dorian Gray». Als Fratze ihrer selbst.
Diego Costa, der Seuchenvogel
Doch dem Trainer geht radikaler Wandel gegen das Naturell. Und sein einziges Wagnis stellt sich auch noch als Seuchenvogel heraus: der eingebürgerte Stürmer Diego Costa bleibt für Spanien ohne Tor, hat in seinen sechs Partien vier Niederlagen erlebt und scheint mit seiner aggressiven Art die Mitspieler mehr zu irritieren als den Gegner.
Diesen lobte Del Bosque am Donnerstag auffällig: «Nicht Spanien hat versagt, die Slowakei hat ihre Stärken und war vor dem Tor tüchtiger als wir». Beim nächsten Spiel am Sonntag in Luxemburg werden ähnliche Hymnen nicht möglich sein, ein Sieg gilt als vorausgesetzt, aber die Frage bleibt: Wer spielt, etwa im Tor?
«Ich träume von Paris 2016», sagte der 33-jährige Casillas bei seiner TV-Beichte. Im Moment spricht allerdings wenig für einen EM-Final. Nicht für ihn und nicht für sein Land.
Juraj Kucka hebt ab: Sein Tor leitete den spanischen Untergang in der Slowakei ein. (Bild: Keystone/PETR DAVID JOSEK)