Die Statistik der laufenden Saison sprach für Chelsea. Doch Liverpool konnte dem Tabellenführer am Dienstag in einem spektakulären Spiel ein Unentschieden abringen. Damit verschafft sich Jürgen Klopp etwas Ruhe.
Feindschaft, Flutlicht, Regen: Die Bühne an der Anfield Road war bestellt für ein grosses Duell zweier Klubs, die sich seit den Nullerjahren nicht ausstehen können. Für die Anhänger des FC Liverpool ist der vom russischen Rohstoff-Tycoon Roman Abramowitsch geführte FC Chelsea ein neureicher Emporkömmling ohne Sinn für Romantik und Anstand. Umgekehrt blicken die Londoner verächtlich auf einen Klub, der sich immerfort an der eigenen Historie berauscht, aber seit 27 Jahren keinen Ligatitel mehr gewonnen hat.
Dieser ideelle Konflikt wurde am Dienstag unter der Anwendung von völlig konträren taktischen Mitteln auf dem Rasen fortgesetzt. Das Ergebnis war ein fussballerischer Kulturkampf, der das Stadion ins Wanken brachte und auch neutrale Beobachter verzückte.
«Auf der roten Seite war Bereitschaft, Leidenschaft, Wille, Gier; im blauen Trikot steckten Coolness und Erfahrung», sagte Jürgen Klopp nach dem donnernden Spektakel. Seine Elf hatte mithilfe des lärmenden Publikums, unablässigem Druck auf den Ball und läuferischer Intensität am Rande des Kollapses die spielerisch eine Klasse besseren, nahezu unverwundbaren Besucher – eine Niederlage in den letzten 15 Partien – nachhaltig erschüttert. Georginio Wijnaldums 1:1-Ausgleich (57. Minute) war nichts weniger als der verdiente Lohn für den gewaltigen Aufwand der Klopp-Elf.
Hochspannung eine Viertelstunde vor Schluss: Liverpools Simon Mignolet pariert einen Penalty von Diego Costa. (Bild: Reuters/Carl Recine)
Gleichzeitig durfte der 49-Jährige froh sein, dass die in den Strafräumen weitaus abgeklärter agierenden Gäste eine Viertelstunde vor Schluss nicht den Sieg entführt hatten, als Chelseas Sturm-Ungetüm Diego Costa vom Elfmeterpunkt an Simon Mignolet scheiterte. Am Ende dieses Lieds von Feuer und Eis stand so weder Triumph noch Desaster, sondern ein wohl-temperiertes Unentschieden, mit dem sich allseits gut leben liess.
«Lasst uns ein bisschen Spass haben»
Chelsea führt mit neun Punkten weiterhin ungefährdet die Tabelle an, Liverpool vermied eine moralzersetzende vierte Heimniederlage in Folge und steht auf Platz vier. Da, wo die Mannschaft angesichts ihrer noch stark ausbaufähigen Qualität im Grunde auch hingehört.
Dem von Stadion-Atmosphäre und Einsatz seiner Männer begeisterten Klopp («outstanding!») bot das Remis Gelegenheit, die englischen Medien, aber auch die nicht minder sprunghafte Anhängerschaft der «Reds» zu mehr Augenmass bei der Bewertung der Spielzeit aufzufordern. «Wenn uns vor der Saison jemand gesagt hätte, ‹Wir stecken euch in eine Zeitmaschine und nach fünfzehn Spieltagen steht ihr da, wo ihr heute steht›, wer hätte da Nein gesagt?», fragte er rhetorisch. «Wir müssen jetzt cool bleiben und in den nächsten Partien alles versuchen. Lasst uns ein bisschen Spass haben. Noch ist nichts entschieden.»
Den Appell nötig gemacht hatte eine spürbare Stimmungseintrübung nach Jahreswechsel. Bei vielen LFC-Fans waren im Zuge einer unvorhergesehenen Negativserie mit nur einem Sieg in sieben Spielen schreckliche Erinnerungen an die jüngere Vergangenheit aufgekommen; an regelmässig enttäuschte Erwartungen und falsche Hoffnungen unter Klopps Vorgängern. Die unter dem Strich erstaunlich gute Bilanz in der Liga – in den vergangenen 25 Jahren hat Liverpool nach 23 Partien nur zwei Mal mehr Punkte gesammelt – war aus dem Blickfeld geraten.
Kompliment vom Schiedsrichter
Wie angespannt die Lage war, konnte man merken, als Chelsea sich nach dem Hochgeschwindigkeits-Auftakt der Hausherren Mitte der ersten Hälfte langsam gefangen hatte und Verteidiger David Luiz Mignolet mit einem schnell ausgeführten Freistoss düpierte (0:1, 24.)
In Klopps Rücken murrte und grummelte es, und in einer Szene hatte sich der Trainer selbst nicht ganz im Griff. «Niemand kann uns schlagen», brüllte er nach eigener Auskunft den vierten Offiziellen nach dem verschossenen Costa-Elfer an. «Das stimmt natürlich nicht. Und der Mann war auch der falsche Adressat», gab er hinterher zu. Der Schiedsrichter nahm die Entschuldigung an und outete sich überraschend als Fan. «Er sagte: ‹Ich mag Ihre Leidenschaft›, das ist mir noch nie passiert», berichtete der Schwabe erleichtert.
Starke Energieschübe von der Seitenlinie und von den Fans werden weiter zwingend notwendig sein, um die Truppe in die Champions-League-Plätze zu bugsieren; Klopps Mannschaft muss die spielerischen Defizite mit abgerissenen Kilometern ausgleichen. Niemand läuft mehr auf der Insel, von den Spitzenteams zum Glück aber auch niemand seltener in den nächsten Wochen. Ohne Doppel- und Dreifachbelastung kann sich Liverpool in den nächsten Monaten ganz auf seine feurige Kernkompetenz konzentrieren. Coolness und technische Effizienz müssen bis noch zur nächsten Saison warten.