In zehn Monaten als Teamchef der österreichischen Nationalmannschaft hat sich Marcel Koller Respekt verschafft. Am Dienstag startet der Schweizer mit seiner Mannschaft gegen Deutschland in die WM-Qualifikation.
«Martin Harnik hat einen Eisenbahner.» Marcel Koller sorgt für ein Aha-Erlebnis und Gelächter bei den versammelten österreichischen Journalisten. Mit so einer exakten Diagnose hat hier keiner gerechnet. «Man sagt hier doch Eisenbahner, oder?», fragt Koller noch einmal in die erstaunte Runde und erntet Anerkennung. Eisenbahner, der Wiener Fussball-Fachausdruck für einen schmerzhaften Bluterguss im Oberschenkel – präziser hätte sich auch ein Wiener Arzt nicht ausdrücken können.
Kein Platz für Dragovic
Österreichs Fussball wird am Dienstag noch nie Dagewesenes erleben: Allem Anschein nach wird erstmals eine Nationalelf im (ausverkauften) Happel-Stadion gegen Deutschland auflaufen, die aus lauter Spielern besteht, die im Ausland beschäftigt sind. 15 der 23 von Marcel Koller aufgebotenen Spielern sind Legionäre. Kein Platz in der Anfangsformation ist derzeit für Aleksandar Dragovic vom FC Basel. In der Innenverteidigung haben sich Sebastian Prödl (Werder Bremen) und Emanuel Pogatetz (VfL Wolfsburg) festgespielt. (cok)
Erst zehn Monate ist Marcel Koller als österreichischer Teamchef im Amt, aber der Schweizer ist längst angekommen und heimisch geworden in Österreich. Einem Land, das kein einfaches Pflaster ist für Experten von aussen, die allzu gerne als Eindringliche gesehen werden.
Das war bei Koller nicht viel anders, etliche Kolumnisten und Alt-Internationale von Prohaska bis Jara hatten den 51-jährigen Zürcher mit Argwohn und Kritik empfangen. Wozu brauchen wir einen Ausländer, hatte es unter anderem damals geheissen. Oder: Was könne dieser Koller als Trainer schon grossartig vorweisen?
Koller wirkt im Vergleich wie ein Revolutionär
Kritische Distanz zum Beispiel, Konsequenz ohne Wenn und Aber, taktische Arbeit bis ins kleinste Detail, kurz: Marcel Koller präsentiert und repräsentiert all jene Eigenschaften, die man von österreichischen Teamchefs in der jüngeren Vergangenheit kaum bis gar nicht kannte. Hans Krankl? Ein emotionaler Nationalheld, aber alles andere als ein Fußballlehrer. Josef Hickersberger? Ein amikaler Kerl, aber eben auch kein Vertreter der modernen Trainingslehre. Der Tscheche Karel Brückner? Ein charmanter Senior, aber mit der deutschen Sprache überfordert. Schliesslich Dietmar Constantini? Ein Kumpeltyp, aber nicht wirklich ein gewiefter Taktiker.
Neben seinen Vorgängern wirkt dieser kompromisslose Marcel Koller nun beinahe wie ein Revolutionär. Der Schweizer nimmt keine Rücksicht auf die Seilschaften des österreichischen Fussballs, ihm sind die Befindlichkeiten der Funktionäre ebenso egal wie alte Verhaltensmuster, er spricht zwar schon österreichisch («Eisenbahner»), aber er denkt immer noch wie ein Aussenstehender.
Das war auch der Grund, warum er das Rennen um den Teamchefsessel machte. «Wir wollten jemanden, der für einen Neustart steht», hatte der Verbandspräsident Leo Windtner anlässlich der Bestellung des Schweizers vor einem Jahr gemeint.
Das Kompliment von Joachim Löw
Aus heutiger Sicht haben die Verbandsfunktionäre die richtige Entscheidung getroffen. Koller ist es nicht nur gelungen, binnen weniger Monate der Nationalmannschaft seinen Stempel aufzudrücken, er hat den Spielern auch ein neues Selbstbewusstsein und Selbstverständnis eingeimpft und im Land eine kollektive Aufbruchstimmung ausgelöst.
Die jüngsten Auftritte und Erfolgserlebnisse (unter anderem jüngst das 2:0 gegen die Türkei) haben auch beim deutschen Bundestrainer Joachim Löw, am Dienstag erster Gegner der Österreicher in der WM-Qualifikation (20.30 Uhr, ARD live), einen Eindruck hinterlassen. «Das Spiel hat jetzt eine Klarheit, eine Struktur, man sieht die Schweizer Präzision», lobt Löw. «Diese Österreicher sind stark im Kommen.»
Es sind vor allem Geradlinigkeit und Konsequenz, die an Marcel Koller so imponieren. Der typisch österreichische Schlendrian hat ausgedient, es gibt nur mehr Rot oder Weiss, der 51-Jährige ist kein Mann für halbe Sachen und wacklige Entscheidungen.«Er hat genaue Vorstellungen, was er will, und er teilt diese frühzeitig mit. Wir können uns danach orientieren und alles umsetzen», meint etwa Alfred Ludwig, der Generaldirektor des ÖFB.
Bei seinem Streben nach Perfektion muss Koller – ganz unösterreichisch – mittlerweile selbst auf wirtschaftliche Zwänge und Verpflichtungen keine Rücksicht mehr nehmen. Seine Vorgänger als Teamchef bereiteten sich mit dem Team stets im Bundesland Burgenland auf die Heimspiele vor, einem der grössten Geldgeber des Verbandes. Koller hingegen wohnt ungeachtet des laufenden Sponsorvertrages mit seiner Mannschaft lieber in einem Wiener Innenstadthotel, in unmittelbarer Nähe des Happelstadions.
Koller zieht seine Linie durch
Das neue Domizil in Wien freute anfänglich auch die Organisatoren der österreichischen Bruno-Gala, bei der alljährlich die besten Fussballer und Teams des Landes ausgezeichnet werden. Zur Feier, die extra neun Tage vor dem Spiel gegen Deutschland, 600 Meter vom Teamhotel entfernt stattfand, entsandte Marcel Koller keinen einzigen Spieler. «Ich will, dass sich meine Spieler zu hundert Prozent auf ihre Arbeit konzentrieren», erklärt der 51-Jährige. Auch Sponsorentermine oder Interviews abseits der fixen Pressekonferenzen stellt Koller, der stets selbst zur Presse spricht und nie einen Vertreter aus seinem Trainerstab schickt, ins Abseits. «Wir brauchen eine Linie, und die Spieler sollen das spüren.»
Wer da nicht mitziehen will, der fliegt. So wie Hamburg-Legionär Paul Scharner, der vor dem freundschaftlichen Länderspiel gegen die Türkei einen Stammplatz gefordert hatte. Noch am selben Tag verliess der exzentrische Verteidiger das Teamcamp und trat in einem Interview gegen Marcel Koller nach. Er sei in den zehn Monaten in Österreich weichgeklopft worden wie ein Wiener Schnitzel, so die Kritik. Koller liess sich erst auf gar keine Diskussionen ein. Er meinte nur so viel: «Ja, ich esse Schnitzel. Zwar nicht jeden Tag, aber es schmeckt echt richtig lecker.»
Die neue Aufbruchstimmung
Die österreichischen Spieler sind jedenfalls angetan vom berechenbaren Schweizer mit seinen klaren Ansagen. «Wir haben mit Koller einen Trainer, der unsere Stärken gut zusammen führt», erklärt Stuttgart-Legionär Martin Harnik, «die guten Ergebnisse sind die Früchte unserer Arbeit.» Und auch Bologna-Verteidiger György Garics sieht den Aufwärtstrend eng mit der Person Koller verbunden. «Natürlich ist es auffällig, dass wir einige Schritte nach vorne gemacht haben, das hat sicher mit dem Trainer zu tun. Er versucht, uns eine Linie zu geben, und das funktioniert gut.»
Es herrscht also Euphorie in Österreich. Eine Euphorie, für die vor allem Marcel Koller verantwortlich ist. Ob eine Aufbruchstimmung und ein ausgeklügeltes taktisches Konzept gegen Deutschland reichen, ist freilich dahin gestellt. Eines hat der Schweizer allerdings bereits erreicht. Er geniesst das uneingeschränkte Vertrauen von Fans, Spielern und Funktionären.
«Wir werden nicht nach irgendeinem Rückschlag sofort wieder eine Diskussion starten. Der jetzige Stab hat sich gut eingearbeitet, es ist Respekt und Akzeptanz seitens der Mannschaft da. Jetzt müssen wir Koller und sein Team arbeiten lassen», fordert Präsident Leo Windtner.
So hören sich auf österreichisch Komplimente an. Eisenbahner-Experte Koller wird das bereits wissen.
Die Situation in der Gruppe C der WM-Qualifikation und ein kleines A bis Z der österreichisch-deutschen Fussballbeziehungen.