Mit den Füssen denken und fühlen – zwei Bücher befassen sich philosophisch mit Fussball

Auf dem Rasen Frankreichs geht es zur Zeit um Tore und Punkte. Eine vermeintlich einfache Sache, dieser Fussball. Der deutsche Philosoph Gunter Gebauer und der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint befassen sich in zwei Büchern auf ihre Art damit – wir verlosen je eines der Werke.

Zwei Schriftsteller, die Fussball im Kopf haben – und ihre Gedanken in Büchern teilen.

(Bild: Nils Fisch)

Auf dem Rasen Frankreichs geht es zur Zeit um Tore und Punkte. Eine vermeintlich einfache Sache, dieser Fussball. Der deutsche Philosoph Gunter Gebauer und der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint befassen sich in zwei Büchern auf ihre Art damit – wir verlosen je eines der Werke.

Fussball ist in der Regel nichts für Feingeister: zu hart, zu plebejisch, zu korrupt. Ein Spektakel für die Massen, bei dem nur der Sieg zählt. So ist es kein Wunder, dass gleich zwei Autoren, die sich auf eine gebildete Weise mit dem Phänomen Fussball befassen, an ihrer eigenen Herangehensweise zweifeln.

Gewinnen Sie eines der Bücher
Wir verlosen je eines der hier besprochenen Bücher. Hinterlassen Sie bis Mittwoch, 15. Juni, einen Kommentar zu diesem Artikel mit der Angabe, welches Buch Sie gewinnen möchten. Viel Erfolg und Vergnügen bei der Lektüre!

Der deutsche Philosoph Gunter Gebauer fragt sich, ob Fussball überhaupt ein philosophischer Gegenstand sei. Und der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint kokettiert im Vorwort damit, dass sein Buch niemandem gefallen werde, «den Intellektuellen nicht, die sich nicht für Fussball interessieren, den Fussballliebhabern nicht, die es zu intellektuell finden werden».

Zum Glück fegten sie ihre Zweifel weg und verfassten jeweils ein Fussballbuch der etwas anderen Art.

Fussball, die existenzielle Erfahrung

Vor allem Jean-Philippe Toussaint geht es in «Fussball» nicht um Taktik und Technik, nicht um Siege und Tabellen, auch nicht um den Fifa-Sumpf oder um galaktische Ablösesummen. Der Belgier, bekannt für seine detailverliebten, novellenartigen Romane, hat ein sehr persönliches literarisches Werk über Fussball geschrieben. «Ich kann Fussball nicht von meinen Träumen und meiner Kindheit trennen», schreibt er und blickt tatsächlich auch in seinem schlanken Buch mit den Augen eines Kindes auf den Sport.

Ihm geht es so gut wie gar nicht um den sportlichen Aspekt – Fussball ist für ihn eine existenzielle Erfahrung. Sei es in der Erinnerung an glückliche Stunden als kleiner Junge auf dem Bolzplatz, sei es als Erwachsener in den Fussballstadien in aller Welt.

«Ich tue so, als schriebe ich über Fussball, aber ich schreibe, wie immer, über die Zeit, die verrinnt.» – Jean-Philippe Toussaint

Vor allem seine Städte- und Stadion-Tour durch Japan bei der Weltmeisterschaft 2002 nimmt einen grossen Raum ein. Jean-Philippe Toussaint giesst plötzliche Umarmungen von einander fremden Fans im Stadion genauso intensiv in Worte wie ein fast Proust’sches Nachsinnen über Vergangenheit, Gegenwart und Tod.

Zidanes Szene für die Ewigkeit

In seinen kurzen Texten gelingt es dem 58-Jährigen auf eine zarte und intelligente Art, dem Profanen des Sports etwas Metaphysisches abzuringen. Toussaint schreibt, dass uns der Fussball, während wir ihn betrachten, radikal auf Distanz zum Tod halte: «Ich tue so, als schriebe ich über Fussball, aber ich schreibe, wie immer, über die Zeit, die verrinnt.»

Jean-Philippe Toussaints literarische Miniaturen veredeln den Fussball und bringen ihn nachhaltiger zum Glänzen, als es ein perfekter Freistoss Ronaldos je schaffen könnte. Dem Schriftsteller ist das im Jahr 2006 schon einmal gelungen: In seinem Essay «Zidanes Melancholie» reflektierte er über den schicksalhaften Moment des WM-Finales in Berlin, als Zidane seinen italienischen Gegenspieler Marco Materazzi mit einem Kopfstoss zu Boden schickte. «Und unfähig, sich mit einem weiteren Tor zu verewigen, verewigte er sich in unserer Erinnerung.»

Zidane habe mit seiner Geste – und mit dem verpassten Gewinn der Weltmeisterschaft – unbewusst sein Karriereende verweigert und sei zu einer Legende geworden.

Ein Elfmeterschiessen im Transistorradio

Toussaints Buch ist eine Huldigung des Fussballs. Seine lose Sammlung kleiner Texte sind die eines fussballinteressierten Ästheten. Und doch endet sein Buch wie das eines besessenen Fussballverrückten: Toussaint beschreibt seine Not, wie er sich – trotz selbst verordneter Fussball-Abstinenz – während der WM 2014 das Spiel Niederlande gegen Argentinien im Internet anschauen will und ein Gewitter für Stromausfall sorgt. Wie eine Romanfigur irrt er durch sein Haus in Korsika auf der Suche nach einer Möglichkeit, das Elfmeterschiessen zu verfolgen – bis er auf ein altes, batteriebetriebenes Transistorradio stösst.

Verrauscht und undeutlich verfolgt er das Ende des Spiels und beendet sein Buch mit der romantischen Beschreibung des Unwetters: «Die Gewitter tobten jetzt über Italien, ich beobachtete die schleierhaften Umwälzungen des Himmels am Horizont, sah, wie er stossweise, in weisslichem, ruckartigem, stummem Flattern zerriss. Da hörte ich schwach aus dem Bett hinter mir die verschlafene Stimme Madeleines, die mich sanft fragte: ‹Ist der Fussball vorbei?› Ja, er war vorbei. Jetzt ist der Himmel.»

Das erinnert sehr stark an die Klopstock-Szene in Goethes «Die Leiden des jungen Werther». Und macht klar: So wie Jean-Philippe Toussaint hat noch niemand über Fussball geschrieben.

Fussball streicht einen kulturellen Prozess weg

Wie Gunter Gebauer hat vermutlich noch niemand über Fussball nachgedacht. Der Berliner Philosophieprofessor legt mit seinem Buch «Das Leben in 90 Minuten» eine stattliche Philosophie des Fussballs vor. Und Philosophie ist hier im Wortsinn zu verstehen, nicht im Sinne der zahlreich existierenden Fussball-Philosophien von Trainern und Taktikexperten.

Gunter Gebauer wendet auf rund 300 Seiten in sechs Kapiteln philosophische Denkrichtungen an, um das Geschehen auf dem Fussballplatz zu erfassen. Vor allem die Philosophie Ludwig Wittgensteins kommt dabei vielfach zum Einsatz, ebenso aber Nietzsche, Heidegger, Foucault, Bourdieu und viele andere.

«Im Stadion lebt man in der absoluten Gegenwart», so Gebauer; bei Toussaint ist man «in einem Zeitkokon eingesponnen».

Mit Wittgenstein diskutiert er etwa die Frage, ob Denkvorgänge nicht nur im Kopf, sondern auch mit dem Körper (zum Beispiel Rechnen mit den Fingern) stattfinden können. Praktisches, körperliches Handeln könne man als eine Art des Denkens auffassen, so Gebauer, womit er in Bezug auf den Fussball zu der Erkenntnis kommt, dass das Spiel ein «Denken mit den Füssen» sei. Dabei habe sich der fussballspielende Mensch durch das Verbot, die Hände zu benutzen, selbst gefährdet, wie Gebauer schreibt: «Durch eine einzige Spielregel wird ein kultureller Prozess, der mit der Menschwerdung beginnt und bis in die Gegenwart reicht, weggestrichen.»

Fussball wird zu einer Art «Human-Experiment», bei dem der Mensch wieder Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln müsse, die seine Schwächen in Stärken umwandeln können. Aus einem kulturellen Rückfall (Hände weg!), wird sozusagen eine neue Möglichkeit der Evolution, die den – möglichst perfekten – Fussballer erschafft.

Die «absolute Gegenwart» des Stadionbesuchers

Gunter Gebauers Darlegungen sind komplex, aber immer lebendig und bildhaft, das heisst in der Regel mit Beispielen aus der Praxis belegt. Unter anderem beim Nachdenken über Möglichkeit und Wirklichkeit im Fussball: Er schildert eine Aktion, in der Maradona gekonnt mit dem Ball umgeht, ihn über seinen Kopf lupft, mit der Hacke wieder zurückspielt, mit dem Oberschenkel auffängt – Kunststücke der Unmöglichkeit, eigentlich. Doch: «In Maradonas virtuosem Auftritt erscheint der glückliche Moment des Positiv-Möglichen.» So ist Gebauers Philosophie des Fussball gespickt mit Szenen und Spielzügen, die zur Veranschaulichung seiner Überlegungen dienen – und ganz nebenbei erzählt der 72-Jährige noch die Geschichte des Fussballs mit.

Auch wenn die Bücher von Jean-Philippe Toussaint und Gunter Gebauer eine ganz unterschiedliche Herangehensweise an den Fussball bieten, findet man doch hier und da ähnliche Gedanken. Zum Beispiel beschreiben beide, die Jetzt-und-Hierhaftigkeit des Stadionbesuchers: «Im Stadion lebt man in der absoluten Gegenwart», so Gebauer; bei Toussaint ist man «in einem Zeitkokon eingesponnen».

Die bevorstehende EM wird so manchen Fan tatsächlich «im gegenwärtigen Moment einschliessen» (Gebauer), die Spiele des Turniers werden «so perfekt mit dem Lauf der Zeit verschmelzen» (Toussaint). Und wer sich vor der Lektüre der beiden Bücher gefragt haben mag, was Literatur und Philosophie mit Fussball am Hut haben, wird danach das Spektakel Fussball in so manchem Moment mit anderen Augen sehen.

_
Jean-Philippe Toussaint: «Fussball», übersetzt von Joachim Unseld, Frankfurter Verlagsanstalt (» bestellen)

Gunter Gebauer: «Das Leben in 90 Minuten – Eine Philosophie des Fussballs», Pantheon Verlag (» bestellen beim Verlag)

Nächster Artikel