«Come on, please»: Steven Zuber flehte fast. Da hatte er mal eben das wichtigste Tor seiner Karriere und eines der wichtigeren der Schweizer Länderspielgeschichte geköpft. Doch bei dem Gang aus dem Stadion wurde er immer wieder nach den lässlichen Begleitumständen gefragt. «Für mich überhaupt kein Foul», sagte er zu der Szene in der 50. Minute, als er João Miranda vor seinem Ausgleichstreffer leicht aus der Position gestupst hatte. Ein paar Meter weiter beteuerte er: «It was nothing.»
Zuber erfüllte trotzdem brav alle Interviewwünsche, während hinter ihm Nationaltrainer Vladimir Petkovic die Arena in Rostow am Don verliess. Mit aufrechtem Gang, unter dem Arm einen kleinen Koffer, wie ein eleganter Herr, der gerade den Safe leer geräumt hat. Ein bisschen so musste er sich ja auch fühlen. Der Punktgewinn aus dem 1:1 gegen Brasilien war ein besonders stolzer Schatz – gerade weil er mit Haken, Ösen und gegen den Spielverlauf erkämpft wurde. Weil er «Seele und Glauben meiner Mannschaft» gezeigt habe, wie Petkovic erklärte.
Immer hiess es, diese Mannschaft habe Talent, aber ihr fehle die Siegermentalität. Jetzt stellt sie sich als regelrechtes Wettbewerbsmonster heraus. Wie bei der Generalprobe gegen Spanien schaffte sie auch im Ernstfall gegen das noch stärker eingeschätzte Brasilien ein 1:1, erneut holte sie dabei einen Rückstand auf. Das war nicht nur aus Schweizer Sicht ein Husarenstück, sondern hatte sich in den letzten zwei Jahren für alle Mannschaften der Welt als praktisch unmöglich herausgestellt: Wenn Brasilien seit der Amtsübernahme von Nationaltrainer Tite erstmal in Führung ging, dann gewann es.
«Wenn du ein Tor gegen Brasilien kriegst, denkst du: das wird ein schlechter Tag», sagte Valon Behrami später angesichts von zuvor nur zwei Gegentoren der Seleção in den letzten elf Spielen. Der defensive Mittelfeldspieler sprach vielleicht als Mann des Abends, sicher aber als einer, der besonders viele Schweizer Qualitäten gebündelt hatte.
Behramis kindliche Lust an der Drecksarbeit
Mit fast schon kindlicher Lust an der Drecksarbeit hatte Behrami Brasiliens Superstar Neymar auf den Füssen gestanden, ihm den Ball weggenommen, einmal sogar abgelaufen. Es war ein spektakuläres Duell – weissblondiertes Haar gegen goldblondiertes. Am Ende waren Behramis Zweikampfwerte schon fast irreal, nah an 100 Prozent. Trotz seiner Schlüsselaufgabe schaffte er es, erst in der 68. Minute die Gelbe Karte zu sehen. Weil er ausserdem bereits angeschlagen war, nahm ihn Petrovic kurze Zeit später vom Platz. «Er ist zu wichtig für uns, wir brauchen ihn noch in den nächsten Spielen.»
Fünf Kilometer mehr gelaufen – die Statistiken zum Spiel
Der 33-Jährige, Veteran der Schmerzen, ging immer noch unrund, als er später bei den Reportern vorbeikam. «Die Adduktoren, aber es wird schon weiter gehen». So wie sie sich auch in der Pause nach dem Rückstand durch einen Kunstschuss vom Philippe Coutinho gesagt hätten: «Weitermachen, weitermachen, irgendwas wird schon gehen.» Auch wenn sie in der ersten Halbzeit, wie Behrami einräumte, «nicht gefährlich waren».
Mit Zubers Kopfballtor in der 50. Minute ging dann ziemlich schnell was, und danach war wieder zunehmend Verteidigen angesagt, besonders in der Schlussphase, als Yann Sommer brillant einen Kopfball des eingewechselten Roberto Firmino parierte und Fabian Schär einen Schuss des ebenfalls eingewechselten Renato Augusto irgendwie noch vor der Linie klärte. «Die letzten 30 Minuten haben wir viel gelitten, aber das ist normal», sagte Behrami. Auch wenn die Schweiz über weite Strecken die Brasilianer am Spielen hindern konnte – es waren ja immer noch die Brasilianer.
Die Schweizer Serie
Fünfmal nacheinander hat die Schweiz jetzt den WM-Auftakt nicht verloren, das ist eine enorme Serie. Wie auch die bloss eine Niederlage in den letzten 22 Spielen, welche nach Einschätzung des Trainers wie der Spieler die Überzeugungsgrundlage für die Comeback-Qualitäten liefert.
«Ich hoffe, das die internationalen Medien uns ein bisschen ernst nehmen. Unsere daheim nehmen uns zu ernst.»
Vielleicht wird das alles nirgendwo so wenig geschätzt wie in der Schweiz selbst, wo beharrlich ein Sprung unter die letzten Acht angemahnt wird. Auf die Frage, ob sein Team jetzt mehr Beachtung auch in den internationalen Medien verdiene, scherzte Petkovic jedenfalls: «Ich hoffe, das sie uns ein bisschen ernst nehmen. Unsere daheim nehmen uns zu ernst.»
Das mit dem Standing der Schweiz war ein Thema, das Journalisten aus vielen Ländern offenbar beschäftigte in Rostow. Wie immer, wenn bei der WM eine Mannschaft auf das Radar der Weltöffentlichkeit kommt, wollen die Medien natürlich alles wissen.
Ob die Schweiz als Nummer sechs der Welt nicht mehr Respekt verdiene? «Für uns ist das doch positiv, weil nicht so viel Druck auf uns ist», sagte Xherdan Shaqiri. Behrami pflichtete bei: «Wir sind gern die Underdogs.» Abgesehen davon hätte es von den brasilianischen Spielern nach dem Schlusspfiff sehr wohl Ehrerweisungen gegeben: «Die haben gesagt: Gutes Spiel, ihr seid eine gute Mannschaft.»
Zuber und Miranda – clever gemacht
Eine, die – und das wird sich jetzt weiter herumsprechen – äussert unangenehm zu spielen ist. «Unser Ziel war es, in jedem Moment extrem hart zu bleiben, ihnen keine Meter zu geben», erklärte Sommer. Ohne Räume schrumpft selbst die Übermannschaft Brasilien auf handhabbares Mass. «Wir haben es ihnen schwierig gemacht, wir haben es insbesondere auch Neymar schwierig gemacht, weil wir einfach sehr hart verteidigt haben», so Sommer. «Weil wir ihm auf den Füssen gestanden sind.»
Wie sehr und ob zu viel – das war neben Zubers Einsatz gegen Miranda das zweite Lieblingsthema der brasilianischen Reporter. Im Lande des fünfmaligen Weltmeisters sind die Erwartungen an Wiedergutmachung nach der desaströsen Heim-WM 2014 enorm, der Rückschlag kam überraschend und die Frustrationstoleranz war entsprechend überschaubar.
Petkovic wollte von den Vorwürfen indes nichts wissen. «Ich bin sehr zufrieden, wie kollektiv diszipliniert meine Mannschaft gespielt hat. Wir haben einige Sachen clever gemacht. Es waren keine bösen Fouls dabei.»
Neymars Klage
Die Schweizer waren schon abgereist, als sich zwei Stunden nach Spielschluss auch die Brasilianer aus der Kabine hinausbequemten. Neymar berichtete von neuerlichen Schmerzen im gerade erst wiedergenesenen Fuss, entwarnte zwar («Nichts besorgniserregendes»), klagte aber auch eine vermeintliche Hetzjagd an. Stephan Lichtsteiner, Behrami und Schär – alle hatten für Fouls an ihm die Gelbe Karte gesehen. Nicht genug nach Geschmack des neufrisierten Superstars. «Wenn die Schiedsrichter sich nicht darum kümmern, ist das fatal für den Fussball.»
Auslegungssache. «Wir mussten so spielen» sagte Behrami. «Es war diese Art von Spiel. Diese Art Spiel wird uns in der Zukunft eine Menge helfen.»
Die nächste Zukunft heisst Serbien, das eigentliche Schlüsselspiel der Gruppe für die Schweiz, auch emotional besonders herausfordernd. «Wir haben zwei Jahren für diesen Moment des Turnierstarts investiert», sagte Sommer, nachdem er so eindrucksvoll gelungen war. «Ein guter Start ist so wichtig in einem Turnier, für das Gefühl, für das Selbstvertrauen. Dieses Gefühl nehmen wir jetzt mit zurück ins Teamquartier.»
«Zuber, please» hörte man derweil von Weitem eine brasilianische Reporterin rufen. Höflich blieb der Torschütze stehen. Die folgende Frage konnte man erahnen.