Was in keiner anderen Sportart vorstellbar wäre: Wie Ronnie O´Sullivan nach einjähriger Wettkampfpause den fünften WM-Titel im Snooker holte.
Zum Ende gab es doch so etwas wie sichtbare Freude. Ronnie O´Sullivan schickte die geballte Faust zur Decke des Crucible Theatre, er stiess sie einmal, zwei Mal, drei Mal nach oben, während die TV-Kamera sein sardonisches Grinsen einfing. Anschliessend bedankte er sich zuerst bei Barry Hawkins, dem Final-Kontrahenten, der ihn mehr unter Druck gesetzt hatte als die anderen vier Opfer davor. Sowie bei dem Sportpsychologen, ohne den er diesen Coup niemals hätte landen können. Jenem umgehend eingeblendeten Mann, der auf den Rängen so still und wissend vor sich hin lächelte wie Psychologen das eben tun.
Hatte der Sieger des prestigeträchtigen WM-Turniers im Snooker-Billard also nur tief gestapelt? Der vierte Titel in 2012 sei etwas ganz Besonderes gewesen, beschied der 37-jährige aus dem Londoner Nordosten noch vor zwei, drei Tagen – sodass der fünfte nun kaum einen Unterschied machen könne.
Wie ein Marathon ohne Training
Aber auch das war eher eines der rhetorischen Manöver, mit denen sich der sensible Ausnahmekönner gerne den letzten Druck nimmt. Genau wie das Bild, das er zu Beginn der 17-tägigen Endrunde im nordenglische Sheffield für sich erfand: Er fühle sich nach der einjährigen Wettkampfpause wie einer, der mit einem Tag Training zum Marathon antritt.
Am Montagabend, zum traditionellen «Bank Holiday» in Grossbritannien, war «The Rocket» kurz nach halb zehn dann als erster im Ziel. Der 18:12 Erfolg in einem sehr hochwertigen Finale, bei dem gleich sechs Centuries (Aufnahmen mit 100 und mehr Punkten) fielen, ist die erste erfolgreiche Titelverteidigung seit 1996 im Crucible, der Kathedrale des Snookersports.
300’000 Euro Preisgeld und Platz 7 in Bestenliste
Sie bringt dem als «dark horse» gestarteten Charismatiker umgerechnet knapp 300’000 Euro Siegprämie sowie den siebten Platz in der ehrwürdigen, 87-jährigen WM-Geschichte ein: Nur sechs Vorgänger konnten die Auslese öfter gewinnen als O´Sullivan, der auch in 2001, 2004 und 2008 triumphiert hatte.
Der zunächst so unwahrscheinliche fünfte Triumph am grünen Tisch hatte sich bald, wenn auch nicht sofort abgezeichnet. Der erklärte Frontrunner war am Sonntagnachmittag mit 2:3 erstmals beim Turnier in Rückstand geraten, bevor er die nächsten drei Frames in Folge gewann.
Ein paar Fehler zu viel
Von da ab lag er immer zwei bis fünf Punkte vorn, ohne Hawkins je ganz abschütteln zu können. Nur zu oft aber wurde der zäh kämpfende Linkshänder aus Kent für kleine Patzer mit dem Verlust des Frames bestraft. «Ich hab ein paar Fehler mehr gemacht als Ronnie», konstatierte Hawkins nachher, «und das kann man sich gegen ihn nicht erlauben.»
In der hohen Kunst, gerade enge Spiele mit dem nächsten kühnen Break zu entscheiden, ragt der populärste Profi seines Sports auch nach seinem einjährigen Sabattical heraus. Und nach wie vor scheint er die Wege des Spielballs auf dem glatt gespannten Tuch weiterhin genauer als jeder andere diktieren zu können.
Dazu kommt eine relativ neue Nüchternheit. Während er früher im berauschenden «Flow» impulsiv Fehler produzierte, blieb O´Sullivan in Sheffield diesmal stets kontrolliert – auch wenn viele darum mutmassten, er habe den tiefen Bezug zu seinem Spiel verloren.
Die Zukunft O’Sullivans bleibt wieder einmal offen
Spekulationen darum, ob dies eventuell sein letzter Start im Crucible gewesen sei, hat O´Sullivan selbst genährt – indem er zwischendurch erklärte, ihm hätten eher Geselligkeit und frisches Geld als der Tanz der 22 Kugeln gefehlt. Die überfälligen Schulgebühren für seine Kinder, mit denen er öffentlich kokettierte, sollten sich mit dem 49. englischen Sieg am WM-Turnier allerdings nachentrichten lassen.
Eindeutige Ansagen zu seiner Zukunft hat der frisch gebackene Champion in Sheffield nicht mehr gemacht. Ausser, dass es eher «ein paar kleinere Turniere» als die vielen, fordernden Termine der Main Tour sein werden. Schon am Wochenende tritt der ebenso wechselhafte wie talentierte Profi bei einem Showturnier der «Snookerlegends» (Eurosport) an – zusammen mit Stephen Hendry, John Higgins und weiteren Mehrfach-Weltmeistern. Mehr Berechtigung dazu hätte er sich in den letzten Tagen kaum erspielen können.