Nick Kyrgios – der einsame Bad Boy, dem keiner hilft

Er verschenkt Punkte, beschimpft die Schiedsrichter und löst damit Folgeskandale aus. Der australische Perspektivspieler Nick Kyrgios leidet unter der Last der Erwartungen.

epa04833522 Nick Kyrgios of Australia wears headphones in between games against Richard Gasquet of France in their fourth round match during the Wimbledon Championships at the All England Lawn Tennis Club, in London, Britain, 06 July 2015. EPA/FACUNDO ARRIZABALAGA EDITORIAL USE ONLY/NO COMMERCIAL SALES

(Bild: Keystone/FACUNDO ARRIZABALAGA)

Er verschenkt Punkte, beschimpft die Schiedsrichter und löst damit Folgeskandale aus. Der australische Perspektivspieler Nick Kyrgios leidet unter der Last der Erwartungen.

Vom alten Schweden Mats Wilander war er gerade noch als «strahlende Erscheinung der Tennis-Zukunft» gepriesen worden, als Spieler, «der einfach Platz 1 der Weltrangliste erobern muss». Doch am Montagabend, nach aufgeladenen Stunden voller Streit, Ärger und Kontroversen im All England Club, war Achtelfinal-Verlierer Nick Kyrgios zunächst mal der unumstrittene Skandalspieler von Wimbledon.

Es waren die leicht bizarren Bilder von Court 2, die Kyrgios, den 20-jährigen Australier, endgültig zum aktuellen Bad Boy des Wanderzirkus machten, die aber auch ein Schlaglicht darauf warfen, unter welchem Druck hochgehandelte Talente wie er im professionellen Herrentennis stehen: Drei Ballwechsel lang stellte der 20-Jährige bei einem 5:7, 0:2-Rückstand gegen Frankreichs Musketier Richard Gasquet komplett seine Bemühungen ein, schwang lustlos die Bälle ins Netz oder versuchte erst gar nicht, sie zu treffen.

Auf wütende Buh-Rufe der Menge – ein seltenes Phänomen in Wimbledon – reagierte Kyrgios wechselweise mit stoischer Miene und angedeutetem Grinsen. «Ich habe nichts Falsches gemacht», gab Kyrgios später zu Protokoll, als er von den «Beastie Boys» des Londoner Zeitungsboulevards ins Kreuzverhör genommen und «regelrecht gegrillt wurde» («The Age», Melbourne).

Kyrgios hat vor allem einen Gegner: sich selbst

Kyrgios zählt zu den verheissungsvollsten Perspektivspielern der Branche, ein junger Kerl wie ein Schrank, gebaut wie ein Basketball-Hüne aus der NBA. Doch seit er von den Experten und regelmässigen Tennisbeobachtern über den grünen Klee gelobt wird, auch von John McEnroe, der ihn zu Turnierbeginn als «bereit für den Wimbledon-Sieg» bezeichnete, da scheint Kyrgios vor allem einen Gegner zu haben: sich selbst.

Kyrgios: «Neuerdings holen sie die Leute wohl von der Strasse auf den Schiedsrichter-Stuhl.»

«Die Last der Erwartungen drückt gewaltig», sagt Englands früherer Topspieler Tim Henman, «auch das plötzliche Leben im Scheinwerferlicht, die ständige Beobachtung.» Kyrgios ist indes keinesfalls der Einzige aus der vielbeschworenen Generation Next, der sich in Wimbledon mal wieder früh aus der Konkurrenz verabschiedete – bei jenem Turnier, das noch immer den Marktwert und die Reputation der Berufsspieler am meisten definiert.

Der unnatürlich ruhige Roboter auf dem Court

Der Bulgare Grigor Dimitrow, Freund von Maria Scharapowa und wegen seiner eleganten Spielweise auch gerne mit Roger Federer verglichen, scheiterte wie später auch Kyrgios am 29-jährigen Gasquet und entliess danach verärgert seinen Coach Roger Rasheed.

Kyrgios’ australischer Landsmann Bernard Tomic wurde in der dritten Runde von Titelverteidiger Novak Djokovic abserviert und legte sich anschliessend mit dem australischen Tennisverband und Legende Patrick Rafter an – mit der Konsequenz einer Streichung aus dem Kader fürs nächste Länderspiel.



Richard Gasquet of France shakes hands at the net with Nick Kyrgios of Australia, after winning their singles match, at the All England Lawn Tennis Championships in Wimbledon, London, Monday July 6, 2015. Gasquet won 7-5, 6-1, 6-7, 7-6. (AP Photo/Kirsty Wigglesworth)

Gegen Richard Gasquet (rechts) scheidet Nick Kyrgios in Wimbledon im Achtelfinal aus. (Bild: Keystone/KIRSTY WIGGLESWORTH)

Auch der Kanadier Milos Raonic, der im letzten Jahr den Halbfinal erreicht hatte, musste früh abreisen von der Church Raod, nur zweiter Sieger im Duell mit Enfant terrible Kyrgios. Bei Raonic ist ein ganz anderes Phänomen der Druckbewältigung zu beobachten: Der besonders in Wimbledon hochgehandelte Gewaltaufschläger schreitet nach psychologischer Beratung inzwischen wie ein Roboter über den Court, unnatürlich ruhig quittiert er glänzende wie grausame Momente.

«Er scheint niemanden zu haben, der ihm hilft»

Den grossen Durchbruch hat ihm das aber noch nicht gebracht. Noch reihen sich bei ihm – wie auch bei allen anderen Herausforderern – im Arbeitszeugnis die Turnierauftritte der verpassten Chancen aneinander.

Dem Tennis-Kartell der Superstars um Federer, Djokovic und Co. stemmte sich mit Stan Wawrinka zuletzt nur erfolgreich und dauerhafter einer entgegen, der selbst schon in seinem 31. Lebensjahr ist. Wawrinka, ein eher schüchterner und zurückhaltender Branchenvertreter, lässt neuerdings Leistung auch auf den grössten Bühnen sprechen – und steht damit in jeder Beziehung am anderen Ende der Erscheinungsskala als Kyrgios.

Der taumelte und torkelte in Wimbledon von Affront zu Affront, wirkte unreif und flegelhaft – und war doch irgendwie in seiner Rolle als rebellischer Young Gun auch zu bedauern. «Er scheint niemanden zu haben, der ihm hilft», fand Tennisikone Martina Navratilova, «er sieht alleingelassen aus.»

Auf den Skandal folgt ein Skandälchen

Kyrgios hatte im Vorjahr Rafael Nadal vom Grün vertrieben, doch nun lieferte er nur Mätzchen und Beispiele seiner inneren Unausgeglichenheit. Gleich in seiner Auftaktpartie kanzelte er einen Schiedsrichter als «dreckigen Abschaum» ab, ruderte dann zurück, er habe sich «damit selbst gemeint.»

Mit einem ungewollten Schlägerwurf ins Publikum entging er in der dritten Runde, im Match gegen Raonic, nur knapp der Disqualifikation. Auch beim Turnierabschied gegen Gasquet sparte Kyrgios nicht mit Beleidigungen gegen den Referee, dem er attestierte: «Neuerdings holen sie die Leute wohl von der Strasse auf den Stuhl.»

Daheim in Australien kam das nicht gut an, führte aber selbst noch zu einem Skandälchen. Mit den Entgleisungen der Jungstars Tomic und Kyrgios konfrontiert, fiel die Schwimmlegende Dawn Fraser aus der Rolle und bemerkte in einer TV-Show, «dass sie am besten dahin zurückgehen, wo ihre Väter herkommen». Mit dem Ausdruck des Bedauerns nahm Fraser das später «uneingeschränkt zurück».

Nick Kyrgios of Australia wipes his face with a towel as he plays Richard Gasquet of France during their singles match at the All England Lawn Tennis Championships in Wimbledon, London, Monday July 6, 2015. (AP Photo/Kirsty Wigglesworth)

Den grossen Durchbruch hat Nick Kyrgios noch nicht geschafft. Zu oft leistet er sich Turnierauftritte der verpassten Chancen. (Bild: Keystone/KIRSTY WIGGLESWORTH)

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