Novak Djokovic bietet in seiner Krise ein Bild der Zerrissenheit

Er zerreisst sich das Shirt am Leib, zertrümmert seinen Schläger und stellt Sinnfragen: So kannte man Novak Djokovic noch nicht. Nun droht er am Ende einer Saison voller Höhen und Tiefen Platz 1 in der Weltrangliste zu verlieren.

Tennis - Shanghai Masters tennis tournament - Shanghai, China - 14/10/16. Novak Djokovic of Serbia changes his t-shirt during his match against Mischa Zverev of Germany. REUTERS/Aly Song

(Bild: Reuters/ALY SONG)

Er zerreisst sich das Shirt am Leib, zertrümmert seinen Schläger und stellt Sinnfragen: So kannte man Novak Djokovic noch nicht. Nun droht er am Ende einer Saison voller Höhen und Tiefen Platz 1 in der Weltrangliste zu verlieren.

Am 5. Juni dieses Jahres, kurz vor halb sieben Abends, malte er ein riesiges Herz in den roten Sand von Paris. Da lag der letzte seiner vielen grossen Triumphe nur ein paar Augenblicke zurück, der historische Sieg bei den French Open – und einer der letzten erfüllten Träume als Tennisspieler. «Völlig überwältigt» war Novak Djokovic von seinem Glück, «am liebsten über der Erde schweben» wollte er, der Be-Herrscher des globalen Wanderzirkus.

Viele glaubten, Djokovic werde nun erst recht die Pulverisierung alter Rekorde vorantreiben, nun, nachdem der Makel des fehlenden Roland Garros-Titels beseitigt war. Doch wer auf die vier Monate nach diesem Feier-Tag blickt, speziell noch einmal auf die letzten Wochen, der erkennt, dass Djokovic am ganz anderen Ende der Erwartungsskala gelandet ist.

Swiss Indoors ohne Kyrgios und mit Del Portro

Nick Kyrgios, eigentlich als eine der Attraktionen an den Swiss Indoors in Basel (22. bis 30. Oktober) angekündigt, ist für sein ungebührliches Auftreten beim Turnier in Schanghai nicht nur mit 25’000 Dollar gebüsst, sondern von der ATP für acht Wochen gesperrt worden. Somit kann er in der Schweiz nicht starten.

Eine erste Wildcard haben die Basler Veranstalter an den grossen Comebacker des Jahres, Juan Martin Del Potro, vergeben. Der Argentinier trug sich 2012 und 2013 in die Siegerliste der Swiss Indoors ein.

» Swiss Indoors | Entry List

Zwar ging es schwarz auf weiss nicht bergab mit dem serbischen Granden, er ist immer noch die Nummer 1 der Weltrangliste. Aber das, was in Fachkreisen als Sieger-Aura bezeichnet wird, die Stärke eines Spielers, die sich auch aus seiner gesamten Statur ableitet, die ist in einem Strudel von Niederlagen, Zweifeln, Krisengerüchten sportlicher und privater Natur verschwunden. Die grossen Titel gewannen jedenfalls andere, einer vor allem, Andy Murray, also der Mann, der Djokovic jetzt sogar vom Tennisgipfel verdrängen kann.

Tennis - Shanghai Masters tennis tournament - Novak Djokovic of Serbia v Roberto Bautista Agut of Spain - Shanghai, China - 15/10/16. Djokovic adjusts his shirt. REUTERS/Aly Song

Einer von Djokovics Helfern, der Österreicher Gebhard Gritsch, sagte einmal, es sei «unglaublich, welchen Aufwand Novak für den Erfolg betreibt.» Dieser Anspruch, alles zur absoluten Vollkommenheit zu regeln, führt jetzt indes dazu, dass Djokovic auch in der Verwandlungsgeschichte alles richtig machen will und sich schon wieder unter Druck setzt, wenn nicht alles nach Anspruch und Bedarf funktioniert.

Entspannung, Harmonie und Zufriedenheit scheint er erzwingen zu wollen, aber so recht gelingen will das nicht – selbst nicht mit dem Rat eines spanischen Gurus namens Pep Imaz. Bei dem hielt sich Djokovic zuletzt immer mal wieder zu Meditationssitzungen auf, entsprechende Videos kann man sogar im Internet betrachten.

Djokovics Malaise ist erhellend in vielerlei Hinsicht: Sie zeigt, wie unglaublich seine Jahre der Dominanz in diesem immer herausfordernderen Sport waren, wie aussergewöhnlich etwa die Saison 2015 war, in der er ausser den French Open absolut alles von Rang und Bedeutung gewann. Sie zeigt aber auch, wie schnell sich alles ändern und drehen kann, aus welchen Gründen auch immer.

Der schmale Grat für die Spitzenspieler

Voriges Jahr war auch Roger Federer noch der ernsthafteste Rivale von Djokovic, und 2016 spielte er gerade eine Handvoll Turniere, war dauernd verletzt und beendete bereits im Sommer die Saison. «Der Grat, auf dem sich alle da oben bewegen, ist viel schmaler als man denkt», sagt Trainerlegende Nick Bollettieri, «manchmal denkt man, das sind Maschinen, die Sieg für Sieg hereinspielen. Aber es sind Menschen.»

» Die Weltrangliste der Männer

Wohin führt Djokovics Weg? Es gibt keine schlüssige Antwort darauf. Nichts scheint unmöglich, nicht ein Anlauf zu neuer Dominanz, nicht eine Fortsetzung oder Verschärfung der Krise. Wundern würde nicht, wenn Djokovic seine Mission mit anderen Gesichtern an seiner Seite anpacken würde, wundern würde das wohl auch nicht Cheftrainer Boris Becker.

Becker braucht sich schliesslich nur daran zurückzuerinnern, was er vor 25 Jahren tat, als er sein letztes Traumziel, den Sprung auf Platz eins der Weltrangliste, erreicht hatte. Da trennten sich die Wege zwischen ihm und Trainer Bob Brett nur wenige Wochen nach dem Pokalcoup.



epa05037727 epa05037717 Novak Djokovic of Serbia hugs his coach Boris Becker after winning against Roger Federer of Switzerland during the final at the ATP World Tour Finals in London, Britain, 22 November 2015. EPA/FACUNDO ARRIZABALAGA EPA/FACUNDO ARRIZABALAGA

Trainerdämmerung? Boris Becker und Novak Djokovic nach dem Sieg gegen Roger Federer an den ATP World Tour Finals in London am 22. November 2015. (Bild: Reuters/FACUNDO ARRIZABALAGA)

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