Orlando Cruz und das Tabu

Das Coming-Out des puertoricanischen Profiboxers Orlando Cruz findet auf einer Insel der Männlichkeit statt. Die Geschichte kennt zwar andere schwule Boxer, ein explizites Bekenntnis während der Karriere hat keiner abgelegt.

«Stolzer Puertoricaner, stolzer Homosexueller» – Der Profiboxer Orlando Cruz. (Bild: Keystone/Dennis M. Rivera Pichardo)

Das Coming-Out des puertoricanischen Profiboxers Orlando Cruz findet auf einer Insel der Männlichkeit statt. Die Geschichte kennt zwar andere schwule Boxer, ein explizites Bekenntnis während der Karriere hat keiner abgelegt.

So berühmt wie letzte Woche, als er nur mit dem Mund gefochten hat, ist Orlando Cruz noch nie gewesen. In 21 Duellen im Profibox-Ring seit Ende 2000 hat der 31-jährige Federgewichtler aus Puerto Rico nicht ansatzweise die globale Aufmerksamkeit erhalten, die ihm jetzt zuteil geworden ist. Warum denn auch: Bisher war er ein passabler, aber nicht herausragender Faustkämpfer, der nach 18 Siegen, 2 Niederlagen und einem Remis an Position 36 der unabhängigen Weltrangliste geführt wird. Ein Mann der zweiten Reihe.

Gut zwei Wochen vor seinem 22. Vergleich, bei dem es um den Latino-Titel der World Boxing Organisation (WBO) geht, hat der Rechtsausleger sich in seiner Wahlheimat Florida nun zu seiner Homosexualität bekannt. Er sei stets «ein stolzer Puertoricaner» gewesen, beschied Cruz Reportern des übertragenden US-amerikanischen Sportsenders ESPN, und werde ebenso «immer ein stolzer Homosexueller sein».

Das war offenbar schon genug, um seine Story um die halbe Welt zu schiessen. Kaum eine Agentur und kein Sport-Portal liessen sich das öffentliche Bekenntnis entgehen – womit der Nickname des Urhebers, «El Fenómeno», jetzt eine neue Dimension erhält.

Auf einer Insel Männlichkeit

Viele Redaktionen hatten die Nachricht mit dem Zusatz versehen, dass Cruz‘ Outing das Erste seiner Art in der Boxwelt sei. Und nicht ganz zu Unrecht auf die Brisanz verwiesen, die so eine Selbstaussage in diesen Kreisen hat. Wobei man von einem Phänomen in zwei Sphären sprechen kann. Ähnlich wie die Karibik-Insel als Teil der Latino-Welt, wird auch die Mikroszene des Boxens seit jeher von der Alltags-Kultur des Machismo dominiert. Wo tapfere Männer halbnackt fäusteln, wähnt sich das Gros seiner Kostgänger wie selbstverständlich auf einer Insel der Männlichkeit.

Harter Hetero, weicher Homo: Der landläufige Boxfan hat seine schlichte Gender-Philosophie den unreflektierten Vorstellungen entlehnt, die um den Ring sowie an der Theke von Sportbars seit jeher eins zu eins tradiert werden. Dort hocken sie, jene «seltsamen Menschen», denen der deutsche Poet und bekennende Boxfan Wolf Wondratschek bereits vor dreissig Jahren ein noch gültiges Denkmal setzte: «Männer, die in aller Öffentlichkeit furzen und zu Hause Ölbilder malen.» Für solche ist ein schwuler Boxer so etwas wie ein Antagonismus, ein Widerspruch in sich – weil so einer sich gar nicht entscheidend durchsetzen könnte, wie sie glauben.

Téofilo Browns flamboyantes Leben in Paris

Dabei gibt es in der Folge der Titelträger und Olympioniken einige, die solche Klischees in Frage stellen. Beginnend mit Alfonso Teófilo Brown, der als «Panama Al Brown» zwischen 1922 und 1942, in der grossen Ära des Radios, mehrfach Weltmeister im Bantamgewicht werden konnte. Der ungewöhnlich grosse, hagere Brown gelangte über New York nach Paris, wo er in Dave Lumiansky bald nicht nur einen versierten Manager, sondern auch einen festen Partner fand. In der Boheme der Metropole konnte der farbige Champion (131 Siege in 163 Kämpfen) sein flamboyantes, homoerotisches Leben offener als überall sonst in diesen Zeiten führen – inklusive einer späteren Liaison mit dem surrealistischen Schriftsteller Jean Cocteau.

Ein explizites Bekenntnis aber hatte er zeitlebens nicht riskiert. Das gab, zumindest im Nachhinein, Emile Griffith ab, der zwischen 1961 und ´68 mehrfach WM-Titel im Welter- und Mittelgewicht gewann. Der enorm kampfstarke Profi von den Virgin Islands, hatte Legenden wie Dick Tiger und Nino Benvenuti besiegt – und seinen kubanischen Erzrivalen Benny Paret. Der hatte ihn vor ihrem dritten Kampf lauthals als «Maricon», als Schwuchtel abgetan.

Ein Leben lang eingesperrt

Paret wurde von Griffith ohne Absicht in den Ringtod geprügelt. In seinen Erinnerungen wunderte sich Griffith viel später: «Ich töte einen Mann, und die meisten Leute verstehen das und verzeihen mir. Andererseits liebe ich einen Mann, und so viele halten es für eine unverzeihliche Sünde, die mich zu einem schlechten Menschen macht.»

Griffith hatte sich «fast mein ganzes Leben lang eingesperrt» gefühlt, da er sich als Aktiver nicht outen konnte – selbst das Wort dafür gab es noch nicht. Diese Kühnheit blieb dem kanadischen Halbweltergewichtler Marc Leduc vorbehalten, der sich zwei Jahre nach dem Gewinn der olympischen Silbermedaille1992 in Barcelona öffentlich erklärte – im Film «For the Love of the Game», der seinen Aufstieg vom jugendlichen Delinquenten zu einem der besten Amateure seines Landes dokumentiert. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich bereits ab, dass Leduc es bei den Profis nicht weit bringen würde – nach fünf Vergleichen war für ihn endgültig Schluss.

Die Dauergerüchte der Szene

In diesem Sinne ist Cruz‘ Coming-Out tatsächlich eine kleine Premiere, weil hier vielleicht erstmalig ein aktiver Boxer Farbe bekennt. Anders als Mike Tyson, dessen bisexuelle Tendenz nur als Dauergerücht in der Szene kursierte; und anders auch als Lennox Lewis, dem zeit seiner Laufbahn als Olympiasieger und Profi-Weltmeister Ähnliches nachgesagt wurde. Ein zumindest phasenweise Homosexueller auf dem Thron des Weltmeisters aller Klassen, der für den US-Romancier Norman Mailer dem «Zeh Gottes» gleich kam: das ist für die Anhänger dieses Sports wohl noch zu viel um zweifelsfrei wahr zu sein.

Beim TV-Sender ESPN darf man zum 19. Oktober gespannt sein: Dann wird sich erweisen, ob nun mehr oder weniger Fans live erleben wollen, wie viel «El Fenómeno» Orlando Cruz als Titelanwärter taugt.

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