Beinahe hätte er noch einmal mit einem Meisterwerk des pragmatischen Ergebnisfussballs obsiegt. Nun steht São Paulo für Ottmar Hitzfeld als Endstation einer grossen Trainerkarriere, während der er für seine ruhige Hand und den klaren Blick der «General» genannt und von Weggefährten für seine Menschenführung geschätzt wurde.
Zum Schluss war es fast so wie 1999 in Barcelona. Ottmar Hitzfeld leistete Trauerarbeit, schüttelte jedem seiner Spieler die Hand, umarmte den einen oder anderen, schaute in verheulte Gesichter – und wurde am letzten Tag seiner Trainerkarriere noch einmal zum Tröster.
Eine Verpflichtung, die der südbadische Menschenfreund wie nach dem mit 1:2 verlorenen Champions-League-Finale der Bayern gegen den FC Barcelona selbstverständlich auf sich nahm. Waren die Münchner damals nach langer Führung durch die Treffer von Sheringham und Solskjaer in den drei Minuten der Nachspielzeit schwer getroffen worden, litt diesmal im Estadio Itaquera die schweizerische Nationalmannschaften an einer Art Sudden Death bei der Fussball-Weltmeisterschaft.
Messis Antritt, eine präzise Vorlage auf Di Maria und dessen Schuss zum 1:0-Sieg für Argentinien in der 118. Minute hatten den Schweizer Riegel aufgebrochen und die Hoffnungen eines Verteidigungsbündnisses zerstört, sich bis ins Elfmeterschiessen retten und dann auf ihren in dieser Spezies besonders geübten Wolfsburger Torwart Diego Benaglio vertrauen zu können.
Argentinien hat das Achtelfinalduell nach Verlängerung gewonnen, die Schweiz ist raus aus der WM und Hitzfeld am Ende einer grossen Trainerlaufbahn, in der er Titel en gros, darunter fünf Meisterschaften mit den Bayern, zwei mit Borussia Dortmund und dazu mit beiden Clubs die Champions League erobert hatte.
Hitzfelds pragmatischer Ergebnisfussball
Zahlen und Erfolgsdaten, die an diesem sonnigen Nachmittag in São Paulo nicht zählten. Das Entsetzen, drei Minuten vor Schluss um den grossen Lohn gebracht worden zu sein, der nach Dzemails Kopfball gegen den Pfosten (120.+1) noch einmal winkte, überlagerte die Szene nach dem Abpfiff einer epischen WM-Partie, über die selbst ein Fussball-Genius wie Lionel Messi sagte, «das ganze Spiel war eine Leidensgeschichte».
Der Schmerz, den er selbst schon vor seiner sportlichen Abschiedsvorstellung zu ertragen hatte, war Hitzfeld am Dienstag nur bei genauerem Hinsehen anzumerken. Etwa, als seine Augen beim Abspielen der Hymnen feucht schimmerten, und nach dem Schlusspfiff, als er mit den Tränen ringen musste. Der Trainer der «Nati» hatte am Montag seinen 17 Jahre älteren Bruder Winfried verloren, der in einem Basler Spital nach langer Krankheit gestorben war – eine Nachricht, die den Lörracher schwer getroffen hatte.
Doch der «General», wie der seine Mannschaften mit ruhiger Hand und klarem Blick führende Hitzfeld genannt wurde, erfüllte seine Pflichten bis zum letzten Arbeitstag gründlich und diszipliniert, stellte seine Mannschaft exzellent auf den Favoriten ein und hätte beinahe noch einmal mit einem Meisterwerk des pragmatischen Ergebnisfussballs obsiegt.
«In den letzten drei Minuten meines Berufs habe ich nochmals alles erlebt, was einem während der ganzen Trainerlaufbahn passieren kann.»
So aber musste Hitzfeld an seinem doppelt schweren Abschiedstag konstatieren: «In den letzten drei Minuten meines Berufs habe ich nochmals alles erlebt, was einem während der ganzen Trainerlaufbahn passieren kann. So ist Fussball, darum lieben wir den Fussball.»
Anders indes als seinerzeit nach dem Schock von Barcelona braucht er nun kein neues Aufbauwerk mehr zu vollbringen, da er unwiderruflich Adieu gesagt hat. «Mein Beruf ist beendet», bekräftigte Hitzfeld seine im Dezember 2013 erstmals öffentlich bekundete Absicht, nach der WM Schluss zu machen, «ich bin stolz auf meine Laufbahn.»
Das kann Hitzfeld auch sein, den der «Blick» sogleich zum «GOTTmar» erhob – eine Ehrfurchtsbezeugung, wegen der der zum Eigenlob nicht neigende Hitzfeld gewiss nicht abheben wird. Was ihn viel eher freut, sind die Dankesadressen seiner ehemaligen Spieler.
«Hitzfeld hat den Umgang mit Stars aus dem Effeff beherrscht»
«In der Menschenführung ist er herausragend», pries zum Beispiel Stefan Effenberg, neben Oliver Kahn der Anführer der Münchner Champions-League-Gewinner von 1997, seinen alten Chef. Niko Kovac, der von 2001 bis 2003 unter Hitzfelds Anleitung spielte und bei der WM dessen kroatischer Trainerkollege war, sieht in ihm sein Vorbild: «Was Topleute auch im Trainerberuf auszeichnet, ist die richtige Menschenführung auf hohem Niveau. Mit Stars umgehen zu können, ist eine Besonderheit. Das hat Ottmar Hitzfeld aus dem Effeff beherrscht.»
Gelson Fernandes, der Schweizer Nationalspieler in Diensten des SC Freiburg, stellte in São Paulo bündig fest: «Er ist nicht nur ein grosser Trainer, er ist auch ein grosser Mensch.»
Ein Mensch, der die vielen Skrupel und Ängste, die er in seiner Vita auszustehen hatte, zwar mit sich selbst austrug, dem aber seine Leidenszeiten an der Nase abzulesen waren. So verliess er den Trainerberuf 2004, als ihm die Bayern, die ihn 2007 zurückholten, gekündigt hatten. Damals balancierte der introvertierte Menschenversteher am Rande eines Burnouts und gönnte sich folglich eine dreijährige Auszeit. Diesmal, sagt er, betrachte er es «als Privileg, freiwillig und dazu gesund gehen zu können».
Das letzte Bild zeigt den Menschen Hitzfeld
Hitzfeld wird sich fürs Erste in sein Zweitdomizil in Engelberg zurückziehen, ehe er wieder den Verpflichtungen gern nachkommt, die seine Werbepartner und der Bundesliga-Premiumsender Sky von ihm erwarten. In seinem Hauptberuf aber wird man Ottmar Hitzfeld nicht mehr erleben.
Der 65 Jahre alte Gentleman ging am Dienstag und hinterliess den schönen Satz: «Es ist das letzte Bild, das bleibt.» Es zeigte noch einmal den Menschen Hitzfeld, wie er für andere und nicht für sich selbst da war.