Perfekt gescheitert

In der ersten Halbzeit sah Atlético-Trainer Diego Siemeone den besten Gegner, dem er jemals gegenüberstand. Umso schwerer muss für den FC Bayern München der verpasste Finaleinzug nachwirken. Und doch schien Verlierer Pep Guardiola am Ende fast ein wenig erleichtert zu sein.

Den Gegner über weite Strecke überrannt, aber am Ende doch draussen: Pep Guardiola und seine Bayern.

(Bild: AP Photo/Matthias Schrader)

In der ersten Halbzeit sah Atlético-Trainer Diego Siemeone den besten Gegner, dem er jemals gegenüberstand. Umso schwerer muss für den FC Bayern München der verpasste Finaleinzug nachwirken. Und doch schien Verlierer Pep Guardiola am Ende fast ein wenig erleichtert zu sein.

Solche Siege tun am Ende nur weh. Der FC Bayern München hat am Dienstagabend im eigenen Stadion alles getan und gemacht, um die 0:1-Niederlage aus dem Halbfinalhinspiel der Champions League bei Atlético Madrid wettzumachen. 34:7 Torschüsse, 66,34 Prozent Ballbesitz, 577:154 Pässe, 12:2 Ecken, 23:1 Flanken – der gesamte Satz an spielrelevanten Daten sprach für den deutschen Meister und Tabellenführer der Fussball-Bundesliga.

Doch die statistischen Werte verblassten samt und sonders hinter dem nackten Ergebnis: Am Ende hatten die Münchner 2:1 durch die Treffer von Alonso (31. Minute) und Lewandowski (74.) bei einem Gegentor durch Griezmann (54.) gewonnen und doch alles verloren.

Müller: «Ein bisschen was falsch gemacht»

Der Traum vom Finale am 28. Mai in Mailand war ausgeträumt, und damit zerplatzte auch die Hoffnung von Trainer Pep Guardiola, wenigstens zum Schluss seiner dreijährigen Münchner Mission das grösstmögliche Finale des internationalen Vereinsfussball endlich zu erreichen und zu gewinnen, wie er das zweimal (2009 und 2011) mit seinem Heimatklub FC Barcelona geschafft hatte.



Atletico goalkeeper Jan Oblak saves a Thomas Muller penalty during the Champions League second leg semifinal soccer match between Bayern Munich and Atletico de Madrid in Munich, Germany, Tuesday, May 3, 2016. (AP Photo/Matthias Schrader)

Der Moment, als die Madrilenen an sich zu glauben begannen: Müllers verschossener Elfmeter in der 34. Minute. (Bild: AP Photo/Matthias Schrader)

Bei seinen drei Münchner Anläufen auf den Champions-League-Titel ist der Katalane jeweils im Halbfinal gescheitert, und das jeweils an den ihm besonders vertrauten spanischen Spitzenklubs: Real Madrid (2014), FC Barcelona (2015) und nun Atlético Madrid. Bot das Aus in den Jahren zuvor durch jeweils eine deutliche Niederlage gegen zwei Giganten des Weltfussballs keinen Anlass, traurig zurückzublicken, schmerzte die Gewinn- und Verlustrechnung aus den Duellen mit dem zweitgrössten Klub aus der spanischen Hauptstadt umso heftiger. «Fussball ist manchmal extrem gemein», klagte Thomas Müller, «wir haben sehr viel richtig gemacht, ein bisschen was falsch. Leider war das nicht genug.»

Drückend überlegen

Der deutsche Nationalspieler, sonst oft genug eine unbeschwerte Frohnatur, trug erkennbar schwer an einem Abend, an dem auch er «ein bisschen was falsch gemacht» hatte. Hätte er nach Giménez‘ Foul an Martinez in der 34. Minute seine Elfmeterchance genutzt, wäre die Chance viel grösser gewesen, den von Anfang bis Ende dieses Zweiteilers äusserst unangenehmen Widersacher abzuschütteln. So aber scheiterte Müller mit seinem halbhoch geschossenen Strafstoss am Stoiker Jan Oblak, der im Duell Schütze gegen Torwart die Nerven behielt und den Ball parierte. Es war der Moment, an dem das madrilenische Kollektiv an diesem von den Bayern dominierten spektakulären Fussballabend an sich zu glauben begann.

Bis dahin nämlich staunte nicht nur Atléticos Trainer Diego Simeone über die Münchner Demonstration eines ebenso klug ausgespielten wie leidenschaftlich in Szene gesetzten Fussballs aus der Viersternekategorie. Der während der sportlichen Auseinandersetzung eher rau anmutende Argentinier, der am Dienstag einmal eine Rangelei mit dem Münchner Franzosen Franck Ribéry provozierte und ein andermal einen eigenen Betreuer handfest traktierte, hat sein Team zum wehrhaftesten, defensiv stärksten und kontergefährlichsten europäischen Kollektiv zusammengeschweisst.

Der ehemalige argentinische Nationalspieler schwärmte nach dem glückhaften Ende aber erst einmal von den Bayern wie ein jugendlicher Liebhaber: «Wir haben in der ersten Halbzeit den besten Gegner gesehen, dem ich jemals gegenüberstand. Es ist unfassbar, wie Bayern aufgetreten ist. Ich habe mich fast in ihr Spiel verliebt.»

Bei aller Liebe: In der Pause führte Simeone seine Profis auf den rechten Pfad zum Gesamtsieg zurück und redete die zuvor für ihre Verhältnisse fast verzagten Atlético-Stars stark. Mit Erfolg. Den ersten und einzig nennenswerten Konter des gesamten Spiels nutzte Atlético mit chirurgischer Präzision zum Ausgleich, als Boatengs Flanke in den gegnerischen Strafraum nicht Lewandowski erreichte, sondern beim Gegner landete und über Antoine Griezmann und den entscheidenden Passlieferanten Fernando Torres wieder zu Griezmann führte, der mit einem Flachschuss ins rechte Toreck Schlussmann Manuel Neuer keine Chance liess.

Der lachende Verlierer

Madrid hatte in einer einzigen Szene seine Extraqualität aufscheinen lassen, als die Münchner Abwehrspieler fahrlässig weit aufgerückt waren und damit den Raum zum wichtigsten Tor des Abends freigaben. Auf ähnliche Weise hat Atlético Madrid schon viele Spiele reaktionsschnell und eiskalt im Abschluss gewonnen. Dass Torres später (84.) noch einen unberechtigten Elfmeter – Martinez hatte ihn ausserhalb des Strafraums gefoult – verschoss, tat nichts mehr zur Sache.

Am Ende hatte ein unglücklicher Verlierer hart mit den Umständen eines Sieges zu kämpfen, der eine gefühlte Niederlage war, und ein überglücklicher Gewinner gut lachen, als das Spiel in die für Atlético gewünschte Richtung ging.

Die Spanier treffen im Finale auf den Gewinner des am Mittwochabend im Bernabéu-Stadion ausgetragenen zweiten Halbfinalrückspiels zwischen Real Madrid und Manchester City (Hinspiel: 0:0). Simeone, so viel ist sicher, fiebert der Revanche für das gegen den grossen Lokalrivalen verlorene Champions-League-Finale 2014 entgegen, auch wenn er in München nach Spielschluss nahezu chevaleresk sagte: «Es gibt im Leben keine Revanche, es gibt nur eine neue Möglichkeit, die wir bekommen.»

Sein Kollege Guardiola, der die Münchner Bühne trotz der bevorstehenden dritten deutschen Meisterschaft mit ihm als Mastermind und Cheftrainer und dem ebenfalls noch möglichen zweiten DFB-Pokalsieg im Finale gegen Borussia Dortmund am 21. Mai als Unvollendeter verlassen wird, schien am Dienstag allen dramatischen Umständen zum Trotz fast erleichtert. Die Forderung nach dem Triple, die er wie 2012 sein Vorgänger Jupp Heynckes endlich einlösen sollte, kann nicht mehr an den Spiel- und Spielerentwickler von hohen Graden gerichtet werden.

«Ich habe gekämpft und mein Bestes getan, ich habe mein Leben für diese Spieler und diesen Verein gegeben», sagte der 45 Jahre alte, sonst eher scheue und manchmal rätselhafte Einzelgänger nach einem Spiel, in dem er alles richtig gemacht hatte, aber seine Mannschaft in zwei Schlüsselszenen nicht aufmerksam genug war.

Ein Hauch von katalanischer Trainertragik

«Ich bin stolz und glücklich», bewertete er diesen faszinierenden Münchner Fussballabend aus der Sicht eines dem Irdischen entrückten Trainerkünstlers, «aber ich bin auch traurig für meine Spieler.» Dieser Zwiespalt, den Guardiola offenbarte, bewegte auch die 70’000 Zuschauer in der ausverkauften Münchner Arena. Die Anhänger der Bayern hatten nach unterhaltungsarmen Wochen ihrer Mannschaft ein Fussballfest erlebt und fühlten sich schliesslich doch um die grosse Bescherung gebracht.

Mag sein, dass Guardiolas Nachfolger Carlo Ancelotti zügig das nachholt, was die Bayern unter ihrem zu Manchester City wechselnden Trainer trotz aller sehenswerten Bemühungen versäumten. Guardiola prophezeite seinen Spielern und damit auch seinem eher pragmatischen Erben eine «perfekte Zukunft». Sein eigener Perfektionismus war am Dienstag – wie schon häufiger bei den ganz grossen Spielen – an den Umständen und einem Gegner gescheitert, der das Machbare noch besser beherrschte als die Münchner Guardiolas Wunschvorstellungen zu erfüllen vermochten.

Und so schwang im Scheitern der Bayern auch ein Hauch von katalanischer Trainertragik mit. Das passte zu einem denkwürdigen Fussballabend der grossen Gefühle und grossen Worte.

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