Mohamed Salah verliess das Olympiastadion als einer der ersten, gleich nach dem unglückseligen Torwart Loris Karius. In einem Wettbewerb der Traurigkeit schauten beide nur zu Boden, die Augen immer noch verweint. Auf sie wartete keine Siegerparty, auf Salah nicht mal das Zuhause. Für den ägyptischen Stürmer ging es direkt zum Röntgen in ein Kiewer Krankenhaus.
Was für eine kleine Ausgangstür zum Ende seiner historischen Saison mit 44 Toren. Würde sich der ehemalige Basler und Shooting Star der Saison auch auf grösster Bühne beweisen, könnte er den fünffachen Weltfussballer Cristiano Ronaldo in den Schatten stellen? Auf die Auflösung dieser Fragen hatte die Fussballwelt mehr als auf alles andere gewartet; das waren die angedachten Narrative für dieses Champions-League-Finale zwischen Liverpool und Real Madrid gewesen. Doch ein Zweikampf mit Sergio Ramos beendete den Showdown nach einer halben Stunde vorzeitig.
Ob Salah seinen Arm beim Real-Kapitän unglücklich einklemmte oder Ramos ihn vorsätzlich zwischen seinen Arm und Oberkörper presste – es war Interpretationssache, aber es war letztlich auch egal. «Ein bisschen wie Ringen», nannte Liverpools Trainer Jürgen Klopp das Einsteigen, das Schiedsrichter Mazic indes nicht mal mit einem Freistoss ahndete. Salah stand noch einmal auf, machte noch einmal weiter, eine Spielszene, dann war es vorbei. Von den Betreuern wurde er unter Tränen direkt vom Platz in die Kabine geleitet.
Das unerhört erfahrene Real erkennt seine Chance
Dass die Kurve mit den Fans von Real Madrid in diesem Moment in Jubelgesänge ausbrach, wird nicht als Denkmal der Sportlichkeit in Erinnerung bleiben. Doch es antizipierte die Bedeutung dieses Ausfalls. Etwas ging kaputt in diesem Match, als Salah vom Platz musste. Liverpool, zuvor tendenziell überlegen und gewohnt stark im Pressing, musste sich erst mal sammeln.
Und wenn dieses unerhört erfahrene Madrid etwas kann, dann seine Chance erkennen. Real, der grössten Sorge entledigt, schob sofort die Linien nach vorn, übernahm die Spielkontrolle und kam zu den Torchancen, die es vorher nur spärlich gehabt hatte. Es schaute nicht mehr zurück, bis es mit 3:1 die vierte Champions League in fünf Jahren gewonnen hatte.
Mit Mohamed Salah ging der Talisman, der personifizierte Glaube an die Überraschung.
Mehr als jeder andere hatte Salah in den vergangenen Runden die Welle entfacht, die das Team überraschend bis in dieses Finale geritten hatte. Unter den unzähligen Transparenten der Liverpooler Anhänger fanden sich denn auch etliche ägyptische Fahnen. Er war der Talisman, er personifizierte den Glauben an die Überraschung. Als er weg war, wirkte Liverpool nackt wie der Kaiser ohne sein schönstes Kleid.
«Es war ein ganz wichtiger Moment in diesem Spiel», sagte Klopp später und fügte hinzu: «Es war sehr schlimm für Mo, für uns und für Ägypten.» Nach der ersten Diagnose wird Salah drei bis sechs Wochen ausfallen. «Wohl ein Schlüsselbeinbruch oder die Schulter selbst», vermutete Klopp. Die Weltmeisterschaft, für die sich Ägypten erstmals seit 1990 qualifiziert hat, beginnt in zweieinhalb Wochen. Ein Wettlauf gegen die Zeit.
Torwartfehler der nie gesehenen Sorte
Gefühlt hatte Liverpool bereits mit Salahs Ausscheiden verloren, doch dieser Verein hat ja in seiner Geschichte schon manches Wunder vollbracht, allen voran bei der legendären Aufholjagd gegen den AC Mailand im Finale 2005. Irgendwo gab es also immer noch ein bisschen Resthoffnung. Karius’ Torwartleistung machte sie zunichte. Seine Fehler brachten den Vollzug, und der erste war von einer auf diesem Niveau nie gesehenen Sorte. In der 51. Minute übersah er beim Abwurf den ausgestreckten Fuss von Karim Benzema – der den Ball blockte und nur noch einschieben musste.
Liverpool reagierte mit verwundetem Stolz und schaffte durch Sadio Mané nach einem Eckball schnell den Ausgleich (55.), wobei Reals Marcelo nicht entscheidend stören konnte – jener Linksverteidiger, über den Klopp vorher gesagt hatte: «Jeder weiss, dass er nicht verteidigt». Dafür greift Marcelo sehr wohl an, wie in der 64. Minute, als er eine Flanke in den Strafraum schlug, die der erst drei Minuten vorher für Isco eingewechselte Gareth Bale per spektakulärem Fallrückzieher verwandelte.
Es war eine mustergültige Kopie des Tors von Real-Star Cristiano Ronaldo im Viertelfinale bei Juventus Turin. Liverpool kam dem Ausgleich noch einmal nahe, als Mané mit einem Schuss von der Strafraumgrenze den Pfosten traf (70.). Doch Karius raubte seinem Team auch die letzte Chance. Einen mittig platzierten Fernschuss von Bale aus rund 25 Metern halbrechts pritschte er sich ins eigene Tor (84.).
«Niemand kann Loris Karius so etwas wünschen. Wir werden an seiner Seite stehen.»
«Die Fehler waren offensichtlich», sagte ein resignierter Klopp, «wir brauchen nicht darüber zu reden. «Er tut mir leid, niemand kann ihm so etwas wünschen. Wir werden an seiner Seite stehen, keine Zweifel.»
Und während sich Karius das Unerklärliche zu erklären versuchte (»Ich weiss nicht, was passiert ist.»), waren manche Gewinner von ihrem letztlich routinierten Sieg offenbar so unbeeindruckt, dass schon wieder die üblichen Seifenopern aufgeführt wurden. Cristiano Ronaldo stellte seinen Abgang in Aussicht («Es war eine schöne Zeit in Madrid»), woraufhin ihn Präsident Florentino Pérez an seine Vertragspflichten erinnerte und das Thema sachte an den Rand drängte: «Heute ist ein Feiertag für uns alle, und das wichtigste ist der Klub. Er ist es, der jetzt 13 Europapokale hat.»
Reals historische Titelserie
In der Tat. Mit dem 13. Titel rangiert Real weit vor dem AC Milan (7 Titel) sowie dem FC Barcelona, Bayern München und dem Liverpool FC (je 5). Es ist der erste Hattrick seit den Bayern in den 1970er Jahren – und eben vier in den letzten fünf Jahren. «Geschichte, die du geschrieben hast. Geschichte, die noch zu schreiben ist», wie es in der Vereinshymne heisst, die den ganzen Spieltag durch Kiew tönte.
Nach den späten 1950er Jahren, als Di Stéfano und Co. die ersten fünf Ausgaben des Cups der Landesmeister in Folge gewannen, hat diese Mannschaft die zweiterfolgreichste Ära in der Historie des Europapokals geschrieben. Für Ronaldo, der bereits 2008 mit Manchester United triumphiert hatte, war es der fünfte Titel. Mehr hat nur Francisco Gento (1956-60, 1966).
Bale, der Kurzarbeiter
Der Matchwinner war allerdings der Mann, der sonst immer in seinem Schatten steht, Gareth Bale. Zuletzt war der 2013 für 101 Millionen Euro von Tottenham Hotspur eingekaufte Waliser gar aus der Stammelf gerückt, in der K.-o.-Phase stand er bis zum Finale insgesamt nur 99 Minuten auf dem Platz. «Ich denke, ich hätte es verdient gehabt, von Anfang an zu spielen», monierte er nach dem Schlusspfiff.
Auch Bale ist unzufrieden, er flirtet mit dem Szenario einer möglichen Rückkehr in die Premier League. «Vielleicht bleibe ich, vielleicht nicht», orakelte er: «Ich werde mich mit meinem Berater zusammensetzen». Zeit ist jetzt genug, Wales hat die WM verpasst.
Ramos, der Buhmann
Ägypten nicht, aber ohne Salah wäre das Turnier für die «Pharaonen» fast nur die Hälfte wert. Real-Kapitän Ramos bleibt wohl daher nicht nur für die Liverpool-Fans, die ihn in Kiew bei jeder Ballberührung auspfiffen, bis ans Ende seiner Tage ein Buhmann. Auch in Salahs Heimatland zweifelten viele an seinen lauteren Absichten bei der Aktion, die wohl mehr als jede andere dieses Finale entschied.
Ramos entschuldigte sich nicht wirklich, das wäre ja einem Schuldeingeständnis gleichgekommen. Aber immerhin kondolierte er, über Twitter. «Der Fussball zeigt dir manchmal sein süssestes Gesicht und manchmal sein bitterstes. Baldige Genesung, Salah! Die Zukunft wartet auf dich.» In der Gegenwart konnte das zunächst niemanden trösten.