Sotschi: Sechs Klischees auf dem Prüfstand

Wohl nicht einmal Peking war vor Beginn der Olympischen Spiele als Austragungsort umstrittener als Sotschi. Nach mehr als einer Woche stellt unser Korrespondent fest: Kaum ein Vorurteil, das vor den Spielen bemüht wurde, hält der Überprüfung vor Ort stand.

Two men sunbathe on the beach in Adler on a warm, sunny day during the Sochi 2014 Winter Olympics February 13, 2014 REUTERS/Eric Gaillard (RUSSIA - Tags: OLYMPICS SPORT ENVIRONMENT TPX IMAGES OF THE DAY) ATTENTION EDITORS: PICTURE 13 OF 24 FOR PACKA (Bild: Reuters/Eric Gaillard)

Wohl nicht einmal Peking war vor Beginn der Olympischen Spiele als Austragungsort umstrittener als Sotschi. Nach mehr als einer Woche stellt unser Korrespondent fest: Kaum ein Vorurteil, das vor den Spielen bemüht wurde, hält der Überprüfung vor Ort stand.

Das kann doch eigentlich gar nichts werden. Russland und Winterspiele? Und dann auch noch in einem Badeort an den Ausläufern der Subtropen, wo man das Wort Skifahren bisher nur vom Hörensagen kannte? Niemals.

Nie zuvor waren die Vorbehalte gegenüber einem Olympia-Austragungsort so gross wie bei Sotschi.

Nie zuvor waren im Vorfeld so viele Horrorgeschichten in Umlauf.

Und nie zuvor war bei Athleten und Zuschauern die Vorfreude so gering wie vor Wladimir Putins (Macht-)Spielen.

Vor Olympia war ein Bild gezeichnet worden, das von Vorurteilen und Klischees geprägt war. Von Ängsten und Sorgen. Von Väterchen Frost und betrunkenen Hinterwäldlern. Von einem Staat, der die Menschenrechte mit Füssen tritt und Kritiker einsperrt.

Auch unter den Sportlern hatte sich die Freude über den Sotschi-Trip in Grenzen gehalten. Spätestens, seitdem der Begriff «Terrorgefahr» im Vorfeld öfter gefallen war als das Reizwort «Medaillenhoffnung» und sich der einstige Zaren-Kurort dank 60’000 Sicherheitskräften in ein russisches Fort Knox verwandelt hatte.

Eine Woche Winterspiele ist Geschichte. Zeit für eine subjektive Zwischenbilanz über Vorurteile und Wirklichkeit.

Klischee 1: Der Russe ist ein mürrisches Wesen.

Die Worte der besorgten Grossmutter klangen noch im Ohr: «Russland? Muss das wirklich sein?» Die Nachkriegserinnerungen wurden ausgepackt, als Warnung. Die Realität sieht anders aus: Der Sotschi-Besucher wird mit Freundlichkeit und Komplimenten geradezu überhäuft. «Hello» und «Have a nice day» an allen Ecken. Wer stirnrunzelnd vor einer Hinweistafel in kyrillischer Schrift steht, bekommt sofort Unterstützung. Wer eine Mitfahrgelegenheit braucht, weil der Bus ausnahmsweise einmal nicht verkehrt, muss sich nur an den Strassenrand stellen und kräftig winken. Die Gastfreundschaft der Volunteers geht so weit, dass es mitunter sogar nervt, so oft angelächelt zu werden.

Klischee 2: Auf den russischen Strassen herrscht das reinste Verkehrschaos.

Die Idee klang ambitioniert, den Olympia-Park am Meer mit der Berg-Region Rosa Chutor in 40 Kilometer Entfernung zu verknüpfen. Der Lokalaugenschein zeigt: Der Verkehr ist gut organisiert, die Staus bleiben aus. Und auch die Busfahrer wissen mittlerweile, was sie zu tun haben – und müssen nicht mehr die Fahrgäste nach dem Weg fragen. Dazu funktioniert das Konzept mit den 40 Gondelbahnen, die im Mountain Cluster im 24-Stunden-Takt fahren, hervorragend.

Klischee 3: Olympia wird eine einzige Baustelle.

«Opening soon», versprach die Homepage des Hotels am Tag der Abreise und liess damit das Schlimmste befürchten. Doch der Reality-Check verblüffte: Moderne Architektur, fast fertig, erwartete die Gäste in Gorki Gorod. Kinderkrankheiten wie das leidige Wasserproblem (braun oder kalt, oder beides) waren schnell behoben. Freilich gibt es auch andere Beispiele und Bilder von Olympia, die durch die modernen Medien wie Twitter und Facebook in die Welt hinausgetragen wurden.

Tatsache ist: 98 Prozent der Sotschi-Gäste können sich nicht über ihre Unterkunft beschweren. Und spät, aber doch haben inzwischen auch einige Restaurants aufgesperrt. Sauber sind sie zudem, diese Winterspiele. Spätestens seit die Mülltonnen im Ein-Meter-Abstand aufgestellt wurden. Rekord: Allein an der Bergstation der Gondelbahn in Gorki Gorod sind 19 Kübel in Sichtweite. Und über die Sportstätten wurde sowieso nie ein schlechtes Wort verloren.

Klischee 4: In einem Sommer-Kurort kann man keine Winterspiele veranstalten.

Möglicherweise sind ja auch einige Milliarden in die Bestechung des Wettergottes geflossen. Die milden Temperaturen, der Sonnenschein und der blaue Himmel mögen vielleicht der Feind aller Ausdauersportler und Serviceleute sein, für die Fans vor Ort und die Zuschauer vor den TV-Geräten sind diese frühlingshaften Rahmenbedingungen ein Segen und sicher ein Mitgrund für die positive Grundstimmung.

Klischee 5: Olympia interessiert die Russen nicht.

Zugegeben, es hat schon Olympische Spiele mit einem grösseren Publikumsansturm gegeben. Die Euphorie und Ekstase der Russen reduziert sich auf ihre Kernsportarten Eishockey, Eiskunstlauf und Biathlon. Der Zinnober, der dort allerdings veranstaltet wird, hat durchaus Gänsehaut-Charakter. Was nicht wirklich angenommen wird, ist das Public Viewing, die Russen schauen offensichtlich nicht gerne öffentlich fern.

Klischee 6: Wer zu den Spielen nach Sotschi fährt, muss um sein Leben fürchten.

Drohnen über den Sportstätten, Fliegerabwehrraketen auf den Hügeln, Tausende getarnte Soldaten im Unterholz – wer genau hinsieht, der entdeckt überall die hohen Sicherheitsvorkehrungen, die von den Russen getroffen wurden. Der Olympia-Gast fühlt sich dennoch nicht wie in einer Festung, zumal die Polizisten und Soldaten zuvorkommend sind, auch wenn sie sich oft nur mit Händen und Füssen verständigen können.

Um sein Leben fürchten muss sich nur der Fussgänger. Zebrastreifen sind in Russland offenbar nur Zierde.

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