Nach seinem Sturz im Januar 2014 kam Thomas Morgenstern noch einmal zurück und holte mit den österreichischen Teamkollegen in Sotschi die Bronzemedaille. Heute ist er in erster Linie Hausmann und Vater. Die Vierschanzentournee sieht er sich nur noch als Zuschauer an. Ein Ausnahmesportler blickt zurück auf eine einzigartige Karriere.
«Ich öffne meine Augen. Ich weiss nicht, wo ich bin. Rund um mich ist es hell. Ich liege in einem Bett, mit weissen Tüchern, die bis zu meiner Brust hochgezogen sind. Die Wände und die Decke rund um mich sind weiss, die Neonröhren strahlen ihr künstliches Licht in den Raum. Ich bin im Krankenhaus. Schon wieder. Aber warum nur?»
Schreiben ist auch eine Möglichkeit, das Geschehene zu verarbeiten und hinter sich zu lassen. In seinem Tagebuch schildert Thomas Morgenstern die dunkelsten Stunden seiner Karriere. Als er im Januar 2014 nach einem Sprung wieder einmal im Krankenbett aufwachte. Gepeinigt von Selbstzweifeln, geplagt von Sorgen und Ängsten – und der alles entscheidenden Frage: Wars das jetzt? Wars das mit der Karriere? Hat es Sinn, vor allem aber hat er selbst überhaupt noch die Kraft weiterzumachen?
«Ich will meine Karriere nicht mit einem Sturz beenden», hatte Thomas Morgenstern nach seinem Unfall beim Skifliegen am Kulm gemeint und sich mit einer Energieleistung noch zu den Olympischen Spielen nach Sotschi gequält. Teamsilber war die verdiente Belohnung für den Kraftakt, der den Kärntner an die Grenze seiner Belastbarkeit gebracht hatte. «Man hat ihm damals angesehen, wie ausgebrannt er nach Olympia war», erinnert sich der österreichische Cheftrainer. «Es war die richtige Entscheidung, dass er aufgehört hat.»
10. Januar 2014, Bad Mitterndorf, Probedurchgang zum Skiflug-Weltcup. Thomas Morgensterns Sturz, der schliesslich Auslöser für seine Karriereende war. (Bild: EXPA/ ERICH AUER)
Zehn Kilo mehr und doch erleichtert
Elf Monate nach seinem schweren Sturz und drei Monate nach dem Karriereende ist Morgenstern nun wieder bei der Tournee aufgetaucht. Er hat einige Kilogramm mehr und wirkt dennoch erleichtert. Erleichtert darüber, dass er nicht mehr über die Schanzen springen muss. Erleichtert darüber, dass er nun mehr Zeit mit Töchterchen Lilly (2) verbringen kann. Nur eine Sache, die plagt den 28-Jährigen dieser Tage.
«Puh, was bin ich jetzt eigentlich?» Was soll einer wie er beim Ausfüllen eines Formulars in der Rubrik Beruf im Moment auch eingeben? Olympiasieger? Weltmeister? «Skisprung-Pensionist geht nicht», meint der 28-Jährige, «und Hubschrauberpilot in Ausbildung klingt irgendwie auch blöd.» Als sich dann Lilly aus dem Kinderzimmer zu Wort meldet, wird Morgenstern klar, was sein derzeitiger Beruf ist – seine Berufung nämlich. «Hausmann, natürlich. Was sonst? Ich bin im Moment mit Leib und Seele Hausmann. Da gehe ich auf, das ist eine Wahnsinnszeit mit der Lilly.»
Herr Morgenstern, wie sieht denn im Moment der Alltag bei Ihnen aus?
Thomas Morgenstern: Jetzt, wo ich Zeit zum Ausschlafen hätte, stehe ich so früh auf wie noch nie. Meistens schon um halb sechs, weil meine Freundin auch so früh raus muss. Und um acht kommt dann eh schon die Lilly, und dann bin ich sowieso mit ihr den ganzen Tag beschäftigt. Im Grunde ist der ganze Tag verplant. Viel zum Sporteln bin ich die letzten Wochen jedenfalls nicht gekommen.
Man sieht es Ihnen auch an. Täuscht der Eindruck, oder haben Sie seit Ihrem Karriereende etwas zugelegt?
Knapp zehn Kilo seit Sotschi. Wobei die Olympischen Spiele kein Massstab waren, da war ich extrem ausgezehrt mit 66 Kilo. Das Höchste, was ich inzwischen hatte, waren am Abend einmal 76,5. Aber das Gewicht ist nicht raufgegangen, weil ich jetzt mehr essen würde. Ich hab’ früher auch immer wieder Chips, Pizza oder eine Schokolade verdrückt. Ich trainier im Moment einfach nichts und verbrenne dementsprechend weniger Kalorien als früher.
«Ich bin froh darüber, dass ich jetzt eine andere Perspektive habe und nicht mehr mitspringen muss.»
Klingt fast so, als hätten Sie inzwischen schon eine grosse Distanz zum Skispringen.
Nein, nein, ich weiss schon noch, was gerade los ist. Ich telefoniere sicher einmal die Woche mit Trainer Heinz Kuttin und schau mir die Springen auch an, wenns mir reinpasst. Den Terminplan habe ich jetzt aber nicht nach den Übertragungen ausgerichtet. Und Sie können mir glauben: Ich bin froh darüber, dass ich jetzt eine andere Perspektive habe und nicht mehr mitspringen muss.
War das Skispringen für Sie am Ende so eine Qual?
Zum Schluss hat es mich nur mehr fertiggemacht. Jeder einzelne Sprung war eine Überwindung und hat mich extrem viel Kraft gekostet. Ich war ständig am Zweifeln, ob das wieder wird. In diesem Gemütszustand macht es keinen Sinn. Mir sind dann sogar solche Sachen wie das Schuhebinden schon mächtig auf den Keks gegangen. Oder wenn wieder irgendein Dreck auf den Skiern gepickt ist, weils geregnet hat. Furchtbar. Den einzigen Sprung, den ich wirklich genossen habe, war mein Abschiedssprung in Stams.
Sie sind wirklich noch einmal über die Schanze, nachdem Sie die Entscheidung getroffen haben, aufzuhören?
Genau. Noch am gleichen Tag. Am Bergisel in Innsbruck ist am Vormittag überhaupt nichts gegangen, dann habe ich gesagt: Das wars. Und dann bin ich am Nachmittag noch einmal zur kleinen Schanze nach Stams. Bei meinem allerletzten Sprung habe ich extra viel Anlauf genommen und den Trainern gesagt, sie sollen bitte filmen. Am Ende ist mir die Entscheidung sehr leicht gefallen.
Vielleicht auch, weil Sie in Ihrer Karriere alles gewonnen haben, was es zu gewinnen gibt?
Das hat es sicher leichter gemacht aufzuhören. Der einzige Titel, der noch gefehlt hätte, war Skiflugweltmeister. Aber das hatte sich mit meinem Sturz am Kulm sowieso erledigt. Und alles andere? Ganz ehrlich, ob ich jetzt 32 Weltcupsiege habe und vielleicht noch eine WM-Medaille von Falun – das ist scheissegal. Ich bin froh, dass ich Olympiasieger geworden bin, den Weltcup gewonnen habe und die Tournee und den WM-Titel am Holmenkollen – ich würde sagen, das reicht locker.
Ihr Erfolgshunger war gestillt?
Das Loch hatte ich früher einmal, nachdem ich alles erreicht hatte. Da habe ich mich dann gefragt: Und was kommt jetzt? Ich war immer einer, der klare Ziele gebraucht hat. Das hat mich auch nach dem Sturz am Kulm angetrieben. Ich wollte noch einmal zu Olympischen Spielen. Dafür habe ich auch alles getan. Dieses Ziel war extrem wichtig. Wenn der Sturz im März passiert wäre, dann hätte ich mich vielleicht etwas hängen lassen und wäre nicht so schnell wieder fit geworden.
War deshalb die Teammedaille in Sotschi besonders wertvoll?
Sotschi war eigentlich ein Traum, das waren in meinen Augen irrsinnig schöne Spiele – vom Ambiente sogar schöner als in Turin, obwohl ich dort Olympiasieger geworden bin. Mir hat es sehr viel gegeben, Teil der Mannschaft zu sein. Und dafür, dass ich körperlich extrem am Limit war und keine olympische Fitness vorhanden war, ist es dort eigentlich erstaunlich gut gegangen.
Am Sonntag beginnt nun wieder die Tournee. Verspüren Sie dabei überhaupt keine Wehmut?
Ich bin da manchmal ein bisschen hin- und hergerissen. Wenn mir die Kollegen Bilder schicken, zum Beispiel aus Lillehammer, blitzblauer Himmel, null Wind und die Schanze pipifein hergerichtet – das bringt schon eine gewisse Wehmut mit sich. Aber wenn ich dann am Abend den Fernseher einschalte und sehe, dass fünf Meter Rückenwind sind und sich alle plagen, dann denke ich mir sofort: Gottseidank.
Was ist jetzt Ihr grösstes Privileg als Skisprungpensionist?
Dass ich nicht mehr ständig auf Achse bin und endlich daheim sein kann. Ich war immer schon ein sehr heimatverbundener Mensch und das Wegfahren war für mich jedes Mal ein Problem. Das Skigymnasium in Stams hätte ich als Junger sicher nie gepackt und überlebt. Ich muss meinen Eltern dankbar sein, dass sie mit mir immer die 50 Kilometer zur Schanze nach Villach gefahren sind. Ohne ihre Hilfe hätte es mich nicht gegeben. Denn eines ist auch klar: Wenn du als österreichischer Springer nicht in Stams bist, dann wirst du gleich einmal übersehen.
«Ich hatte nie das Gefühl, dass ich was verpassen würde. Du überspringst einfach eine gewisse Phase und wirst sehr schnell erwachsen.»
Sie waren 16, als Sie 2003 Ihr erstes Weltcupspringen gewonnen haben. Ist durch Ihre Karriere irgendetwas auf der Strecke geblieben? Stichwort Partys, gleichaltrige Freunde etc. …
Ich hatte nie das Gefühl, dass ich was verpassen würde. Du überspringst einfach eine gewisse Phase und wirst sehr schnell erwachsen. Der Partytyp war ich sowieso noch nie, weil ich es auch nie gelernt habe. Vor 16 gehst du eh nicht fort, und dann lebst du als Sportler in einer anderen Welt und musst sowieso Selbstdisziplin haben.
Wie leicht bzw. schwer ist es Ihnen gefallen, ein Jungstar zu sein und plötzlich im Rampenlicht zu stehen?
Zu dem Zeitpunkt damals war das schon cool und ich habe mich in der Rolle auch wohlgefühlt. Du wirst mehr wahrgenommen als ein normaler 16-Jähriger. Andererseits …
… andererseits?
Andererseits war das am Anfang auch komisch. Es war als kleiner Bub immer mein Traum, einmal bei der Tournee dabei zu sein. Dann fährst du auf einmal mit 16 nach Oberstdorf und liegst mit dem Goldi (Anm. Andreas Goldberger) im Zimmer. Ein halbes Jahr vorher bin ich in Planica bei ihm noch um ein Autogramm angestanden. Was ich sagen will: Ich habe mich nie als Star gefühlt und die Älteren immer mit mehr Respekt behandelt. Ich bin halt auch da runter gehupft, aber deshalb zu sagen, ich wäre jetzt was Besseres, nur weil ich Olympia gewonnen habe, das ist mir fremd.
Apropos fremd: Wie war denn nun wirklich das Klima zwischen Gregor Schlierenzauer und Ihnen? War das wirklich so schlimm, wie in den Medien dargestellt?
Es war sicher nie so ein Clinch, dass wir uns gegenseitig ständig Schimpfwörter um die Ohren geworfen hätten oder gar nichts miteinander gesprochen hätten. Dass wir uns nie mördermässig gut verstanden haben, das ist eh kein Geheimnis und das haben wir beide auch immer wieder betont. Trotzdem glaube ich heute, dass es keinem von uns geschadet hat und dass wir am Ende beide voneinander profitiert haben.
«Im Moment mache ich einmal den Hubschrauber-Berufspilotenschein, das Element Luft lässt mich nicht los.»
Zum Thema Profit eine indiskrete Frage: Hat jemand wie Sie nach all den Erfolgen eigentlich ausgesorgt?
Ich habe keine Ahnung, wie viel man braucht, um ausgesorgt zu haben. Das hängt auch vom Lebensstil ab. Ich war nie der Typ, der mit dem Geld um sich geschmissen hätte, sondern habe viel angelegt und gespart. Insofern werde ich sicher ein paar Jahre überleben können. Es wäre für mich aber nie in Frage gekommen, nur deshalb weiter zu springen, um Geld zu verdienen. Da gibt es genug andere Dinge, die ich genauso gut kann,
Was sind denn Ihre verborgenen Talente?
Ich hatte nie einen Plan B und nehme mir jetzt die Zeit und Freiheit, das zu finden, was mich reizt und wo ich mich gefordert fühle. Irgendetwas, das ich dann im Idealfall bis zur Pension machen kann. Im Moment mache ich einmal den Hubschrauber-Berufspilotenschein, das Element Luft lässt mich nicht los. Wichtig ist, dass ich eine Aufgabe, eine Herausforderung habe. Eines weiss ich aber: Ich bin nicht der Typ, der zehn Stunden am Tag in einem Büro sitzen kann.
Wäre Thomas Morgenstern denn ein guter Trainer?
Im Moment will ich mit dem Zirkus einmal nichts zu tun haben, sonst hätte ich ja gleich weitermachen können. Wer weiss: Vielleicht mache ich nächstes Jahr den Trainerschein. Aber jetzt lassen wir den Heinz Kuttin einmal in Ruhe arbeiten.
Was ist Ihr Eindruck von der aktuellen Weltcupsaison?
Es ist extrem spannend und geht verdammt eng zu. Ich trau mich wirklich nicht zu sagen, wer diesmal gewinnen könnte. Der Simon Ammann hätte es sicher verdient, ich bewundere ihn dafür, dass er immer noch springt. In dem Alter, das wäre nichts für mich. Ich freu mich jedenfalls, wenn ich die ganzen alten Kollegen bei der Tournee treffe.
Bei der Tournee wird man Sie also sehen. Aber werden Sie je noch einmal über eine Schanze gehen?
Das kann ich definitiv ausschliessen.
Warum das?
Skispringen ist ja nichts Ungefährliches. Nur zur Gaudi runter hüpfen, das ist es mir nicht wert. Vor allem ist Skispringen ja nur dann reizvoll, wenn man es auch beherrscht. Und wenn ich einmal etwas super gekonnt habe und dann funktioniert es nicht mehr so wie früher, dann ärgere ich mich nur herum. Deshalb lass ich es lieber bleiben.