Null zu zwei Sätze liegt Roger Federer in Wimbledon gegen Marin Cilic zurück. Der Glaube an die Wende schwindet nicht. Wie zu seinen besten Zeiten erreicht der Schweizer in einer nervenaufreibenden Partie doch noch den Halbfinal. «So spielen Legenden», sagen einige, Federer selbst «könnte glücklicher nicht sein».
Als Roger Federer unter dem tosenden Jubel der Zuschauer vom Centre Court schritt, schüttelte er noch einmal den Zeigefinger seiner emporgereckten rechten Hand. Es war nicht nur eine letzte, kleinere Triumphgeste, sondern auch eine Ansage, ein symbolisches Ausrufezeichen – ganz nach dem Motto: Ich bin noch da.
Und das ist Federer tatsächlich, der siebenmalige Champion, und wie: In einer seiner mitreissendsten Vorstellungen im grünen Rasenreich an der Church Road erwies sich der 17-fache Grand-Slam-Sieger als wahrer Entfesselungskünstler und machte ein unwahrscheinliches Comeback gegen den starken Kroaten Marin Cilic perfekt – 6:7 (4:7), 4:6, 6:3, 7:6 (11:9) und 6:3 lauteten die nackten Zahlen zu einem Thriller, der die Centre-Court-Augenzeugen genau so wie Abermillionen Fans rund um die Welt in seinen Bann zog.
Mehr Siege an Grand-Slam-Turnieren als jeder und jede andere
«Ich könnte jetzt nicht glücklicher sein. Das ist ein Moment tiefer Genugtuung», sagte der Schweizer, der drei Matchbälle im vierten Satz abwehrte, eher er selbst nach 197 Minuten seinen Halbfinalplatz gegen den Kanadier Milos Raonic buchte. «So spielen Legenden», befand trocken die neunmalige Wimbledonsiegerin Martina Navratilova zu Federers Vorstellung.
«Der Traum geht weiter»
Gleich mehrere Rekorde fielen mit Federers sportlicher Wiederauferstehung in dem Marathon. Denn mit seinem 307. Grand-Slam-Erfolge hat er bei den kostbaren Major-Wettbewerben mehr Siege gefeiert als jeder andere Spieler, mehr als jede andere Spielerin auch.
Und auch zwei Bestwerte des alten Strassenkämpfers Jimmy Connors auf den Tennis-Grüns egalisierte der 34-jährige Familienvater an diesem denkwürdigen 6. Juli 2016: 84 Karrieresiege im All England Club. Er beschert dem Baselbieter den elften Vorstoss in die Runde der letzten Vier an einem Schauplatz, der wie kein zweiter Federers Karriere definiert hat.
Wimbledon – das Heim Roger Federer, der Ort seiner grössten Siege. (Bild: Reuters/PAUL CHILDS)
«Der Traum geht weiter», sagte Federer noch im ersten Blitzinterview, als er sich gerade den Schweiss der mehr als dreistündigen Tennisschlacht von der Stirn wischte. Das konnte er nicht nur im Bewusstsein seiner intakten Wettkämpfer-Mentalität sagen, als Wendekönig in diesem verrückten Centre Court-Plot. Sondern auch in der Gewissheit, dass er in der Endphase des wichtigsten Saisonturniers auch physisch für die anspruchsvollen Aufgaben gerüstet ist.
«Die Beine waren okay», sagte Federer, «der Rücken war okay – und zum Schluss konnte ich noch mal richtig zulegen. Das ist ein gutes Gefühl.»
Der Glaube an die Chance
Federers Rückkehr gegen den Mann, der ihn im Halbfinal der US Open 2014 in drei Sätzen dominierte, war überhaupt erst das zehnte Spiel, das der Schweizer nach 0:2-Satzdefizit gewann. Eine solche Leistung war nach einer Saison der Enttäuschungen und Verletzungen erst recht mit Sternchen zu versehen.
Erst kurz vor Wimbledon hatte Federer erstmals wieder in zwei aufeinanderfolgenden Turnierwochen gespielt, in Stuttgart und Halle. Und nun, in Wimbledon, zeigte er Ausdauerstärke, Nervenkraft und Zähigkeit wie in besten Zeiten.
Die Geschmeidigkeit des Roger Federer, 34 Jahre alt. (Bild: Reuters/PAUL CHILDS)
Wie Roger Braveheart erschien der älteste noch verbliebene Titelaspirant gegen den sieben Jahre jüngeren Cilic, liess selbst nach dem frustrierenden 0:2-Rückstand nicht alle Hoffnung fahren. «Natürlich war ich frustriert, wie das Spiel anfing. Aber ich denke immer, dass ich noch meine Chance kriege. Daran muss man glauben», sagte Federer später – es hörte sich fast wie ein Gleichnis für seine späten Tennisjahre an, in denen ihm die Erfolge nicht mehr so leicht zufallen wie in der Glanzepoche.
Mit neuem Schwung gegen den Kanadier Milos Raonic
Im Nachhinein entpuppte sich das siebte Spiel im dritten Satz als schicksalhafter Umkehrmoment an diesem strahlenden Sommertag: Federer lag 0:40 zurück, ein Break zum 3:4 drohte. Doch Federer wehrte das Unheil ab, nahm Cilic seinerseits den Aufschlag ab, gewann binnen Minuten 6:3.
Bei 4:5, 5:6 und im Tiebreak bei 6:7 wehrte er im vierten Akt drei Matchbälle ab, verwandelte den fünften eigenen Satzball im Tiebreak zum 11:9 und zum 2:2-Satzausgleich. Danach war Federer nicht mehr zu stoppen, das 5:3-Break im vierten Satz ebnete endgültig den Weg für das faszinierende Comeback.
» Die Höhepunkte der Partie bei SRF
Ganz gleich, was nun noch kommt in den nächsten Wimbledon-Tagen: Federer wird Inspiration und Motivation aus dem gewonnenen Centre Court-Krimi beziehen. «Das war wie eine Vitaminspritze für ihn», sagte TV-Experte Jim Courier, «es war das, was er nach viel Frust in diesem Jahr brauchte.»
Aber es bleibt ja alles möglich in diesem Turnier, in dem Federer im Halbfinale nicht wieder einmal auf Novak Djokovic trifft, sondern auf den Kanadier Raonic, einen der härtesten Aufschläger der Szene. «Es wird hart. Aber ich nehme viel Schwung aus diesem Tag, aus diesem Sieg mit», sagte Federer.
Aus dem Schatten eines schwierigen Jahres getreten. Roger Federer fordert in der Runde der letzten Vier den Kanadier Milos Raonic. (Bild: Reuters/TONY O’BRIEN)