Von hohen Erwartungen und Dingen, die grösser sind als der Fussball

Vom französischen Heimteam wird an der Europameisterschaft sehr viel erwartet. Die «Equipe Tricolore» soll eine Gesellschaft einen, die mit Terrorismus, Rassismus und einer Reform des Arbeitsrechts beschäftigt ist. Und gewinnen sollen les Bleus ausserdem.

Football Soccer - UEFA European Championship 2016 - France national soccer team training camp, Neustift, Austria - 31/5/16. Didier Deschamps during a news conference. REUTERS/ Dominic Ebenbichler

(Bild: Reuters/DOMINIC EBENBICHLER)

Vom französischen Heimteam wird an der Europameisterschaft sehr viel erwartet. Die «Equipe Tricolore» soll eine Gesellschaft einen, die momentan mit Terrorismus, Rassismus und einer Reform des Arbeitsrechts beschäftigt ist – und sie soll den Titel gewinnen.

Auf diesen Moment hatten Frankreichs Schlagzeilenproduzenten sehnlichst gewartet. Anfang Woche hat sich Karim Benzema endlich zur Zusammensetzung des Kaders der französischen Nationalmannschaft geäussert, dem der Stürmer von Real Madrid selbst nicht angehört.

Die Fussballnation streitet seit Wochen darüber, nach welchen Kriterien Trainer Didier Deschamps seine Spieler auswählt. Alleine auf der Basis sportlicher Erwägungen? Oder spielen Herkunft und Rasse der Kandidaten eine Rolle? «Er hat sich dem Druck eines rassistischen Teils von Frankreich gebeugt», verkündet Benzema nun in einem Interview mit der spanischen «Marca». Die Debatte brodelt im ganzen Land.



Soccer Football - Atletico Madrid v Real Madrid - UEFA Champions League Final - San Siro Stadium, Milan, Italy - 28/5/16 Real Madrid's Karim Benzema celebrates with the trophy after winning the UEFA Champions League Reuters / Stefano Rellandini Livepic EDITORIAL USE ONLY.

Der Champions-League-Titel berechtigt noch nicht zur EM-Teilnahme. Aufgrund einer Erpressungsaffäre wurde Real-Stürmer Karim Benzema nicht aufgeboten. (Bild: Reuters/Stefano Rellandini)

Der eigentliche Grund für Benzemas Nichtberücksichtigung liegt wohl eher darin, dass er Bekannten dabei geholfen haben soll, den Nationalmannschaftskollegen Mathieu Valbuena mit einem Sexvideo zu erpressen. Aber Rassismus ist natürlich ein Problem in dem Land, wo die Rechtspopulisten des Front National so stark sind wie nie zuvor. Es ist eine Diskussion, die zeigt, welch destruktive Kräfte wenige Tage vor Turnierbeginn im Umfeld der Gastgebermannschaft wirken.

Rassismus, Terror, Streiks – und Fussball

Die Nation denkt über Rassismus, Terror und Sicherheit nach, streitet über neoliberale Reformen, und Streikende wollen die EM nutzen, um eben diese Reformen zu verhindern. Es fällt nicht leicht, den Fussball im Auge zu behalten beim Blick auf das voreuropameisterliche Frankreich.

Bei den Buchmachern gilt die «Equipe Tricolore» zwar gemeinsam mit den Deutschen als Hauptanwärter auf den Titel. Dass das Team aber wie bei der Heim-WM 1998 von einer Welle der nationalen Euphorie ins Endspiel schwebt, ist in dieser Atmosphäre ziemlich unwahrscheinlich.

«Es gibt eine sehr starke normative und symbolische Überladung der französischen Mannschaft.»
Pierre Weiss, Sozialwissenschaftler 

Der ehemalige Nationalspieler Marcel Desailly spricht von einem «riesigen Druck», der auf dem Team laste und meint damit nicht alleine die sportlichen Erwartungen. «Politisch ist es im Moment nicht einfach in Frankreich, wirtschaftlich auch nicht. Der Fussball kann alles zusammenführen und den Leuten viel Freude bereiten», glaubt Desailly.

Aber können ein paar Fussballer wirklich ein zerstrittenes Volk einen, die Menschen glücklich machen und komplexe gesellschaftspolitische Probleme lösen? Pierre Weiss von der Universität Luxemburg hält derlei Erwartungen für ziemlich unangemessen.

«Es gibt eine sehr starke normative und symbolische Überladung der französischen Mannschaft», erklärte der Sozialwissenschaftler gegenüber der «Zeit». «Man misst dem Sport eine Bedeutung und Wirkung bei, die er einfach nicht hat.» Und diese Überfrachtung lastet nicht zum ersten Mal auf dem Gastgeber eines Grossturniers.

«Man tut gut daran, die hohen Erwartungen auf ein realistisches Mass herunterzuschrauben.»
Daniel Memmert, Institut für Kognitions- und Sportspielforschung 

Seit Deutschland 2006 seine in der Nachbetrachtung zum «Sommermärchen» verklärte Zauber-WM erlebt hat, sind alle Heimmannschaften bei Welt- und Europameisterschaften enttäuschend gescheitert. Die Schweiz und Österreich blieben bei der EM 2008 ebenso in der Vorrunde hängen wie Südafrika beim Weltturnier 2010. Zwei Jahre danach erging es Polen und der Ukraine auch nicht besser.

Besonders gut sichtbar war die Last der Gastgeberrolle aber bei der WM in Brasilien, wo die Seleção sich mühsam von Spiel zu Spiel schleppte, mit einem Kraftakt das Halbfinale erreichte und dann krachend ausschied: Das 1:7 gegen Deutschland war ein totaler Zusammenbruch und wirkte wie eine logische Reaktion auf die gigantische Last, die sich über Jahre aufgebaut hatte.

Professor Daniel Memmert vom Institut für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln glaubt, dass die Serie der erfolglosen Gastgeber mit der immer grösseren Bedeutung des Fussballs auf unterschiedlichen Ebenen zu tun haben könnte.

«Dieser Druck der eigenen Regierung, des eigenen Landes, der eigenen Fans, das ist ein sehr wichtiger Punkt, und man tut gut daran, das auf ein realistisches Mass herunterzuschrauben», sagt der Wissenschaftler.



French teammates from left : Zinedine Zidane, Marcel Desailly and Laurent Blanc hold the World Cup after France defeated Brazil 3-0 in the final of the World Cup 98at the Stade de France in Saint Denis, north of Paris, Sunday, July 12, 1998. (AP Photo/Michel Euler)

Spieler, die zu Legenden wurden: Zinedine Zidane, Marcel Desailly und Laurent Blanc gehörten zur Equipe Tricolore, die 1998 ein Land hinter sich vereinte und in Paris den Weltmeistertitel gewann. Zwei Jahre später wurden sie auch Europameister. (Bild: Keystone/MICHEL EULER)

Das fällt aber schwer, denn die Franzosen treten mit einer recht stark besetzten Mannschaft an, zudem gewannen sie schon die Europameisterschaft 1984 und die Weltmeisterschaft 1998 im eigenen Land. Diese Vorgeschichte schürt die Hoffnungen. «Der Trainer, die Spieler, das Management, die Fans und auch die Medien – alle erwarten, dass man gewinnt, weil man ja ein Heimspiel hat, was ja ein Vorteil sein muss», erläutert Memmert.

Studien widerlegen diese These jedoch. Je bedeutsamer ein Spiel, desto wahrscheinlicher wird ein Versagen. In sehr bedeutsamen Duellen sinke «der Heimvorteil massiv und dann kann die Auswärtsmannschaft zum Erfolg kommen», sagt Memmert und spricht von einem «Heimnachteil», der unter bestimmten Umständen entstehen könne.

Ein wirksames Gegenmittel ist das Gefühl einer fröhlichen Leichtigkeit, wie sie bei den französischen Turnieren 1984 und 1998 entstand. Doch von einer solchen Kraft ist derzeit wenig zu spüren in dem zerstrittenen Land, auf das ab dem 10. Juni ganz Europa blicken wird.

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