Was für ein Fussball wird an der WM in Brasilien eigentlich gespielt werden? Ziemlich guter vermutlich, auch wenn es wenig taktische Neuheiten geben wird. Und nicht Ballbesitz oder schnelles Umschaltspiel wird die entscheidende Frage sein, sondern wer die beste Balance hinkriegt.
Schweizer Riegel wird es 2014 in Brasilien keinen geben. Die Zeiten, als Weltmeisterschaften die Mustermessen des Fussballs waren, sind vorbei. Als der Österreicher Karl Rappan die Schweizer Nationalmannschaft trainierte und an der WM 1938 sensationell in den Viertelfinal führte, war das noch anders.
Rappan und seine Schweizer überraschen die Fussball-Öffentlichkeit bei der Endrunde in Frankreich mit einem Defensiv-System, das die Vorwegnahme des später legendär gewordenen Catenaccio ist. Sein Clou: Im Abwehrzentrum wird nicht mehr nur Mann gegen Mann, sondern mit einem zusätzlichen Überzahlspieler verteidigt. Der bildet zusammen mit dem angestammten Innenverteidiger das Kernstück des Schweizer Riegels.
So schafft es die Schweiz im Achtelfinal beim Wiederholungsspiel gegen die Mannschaft des hoch favorisierten Nazi-Deutschland, in der auf Befehl des Führers auch Österreicher spielen, das Manko der fehlenden individuellen Klasse zu kompensieren und einen zuhause viel umjubelten 4:2-Sieg zu landen, nachdem die erste Partie noch 1:1 nach Verlängerung geendet hatte.
Die WM ist in Südamerika – der Stil aber bleibt europäisch
Brasilien fehlt es 1958 nicht an der nötigen individuellen Klasse, ganz im Gegenteil. Aber auch wenn in Schweden der aufgehende Stern des 17-jährigen Pelé vieles überstrahlt, staunen die (bemerkenswert) fachkundigen journalistischen Beobachter nicht nur über den brasilianischen Offensivzauber. Ihre detaillierten Beschreibungen der – wie man heute sagen würde – brasilianischen Arbeit gegen den Ball, lassen nur einen Schluss zu: Die Seleção hat 1958 eine Frühform der bis dahin in Europa nicht gekannten und inzwischen weltweit praktizierten Raumdeckung vorgestellt.
Jetzt ist Brasilien der WM-Gastgeber und Europas Vertreter sind nach Südamerika gereist. Ganz egal ob bei der Arbeit gegen oder mit dem Ball, in welchem System, und mit welcher Spielidee – beim Fussball, der dort von Donnerstag an gespielt wird, sind die wichtigsten Stilelemente in Europa geprägt worden und grosse taktische Neuheiten nicht zu erwarten.
Die Erklärung dafür ist einfach: Ob sie aus Afrika kommen oder aus Asien, aus Australien oder Amerika: 80 Prozent der Spieler, die in Brasilien antreten werden, üben ihren Beruf in Europa aus, von den Allerbesten der Welt sind es nahezu alle. Der europäische Clubfussball ist Weltmarktführer, hier werden Innovationen vorgegeben, Entwicklungen beschleunigt oder wieder verworfen.
Der Streit zwischen Ballbesitzfussball und Umschaltspiel
Das bedeutet auch: Die fussballspezifischen Diskussionen, die uns in den kommenden Wochen erwarten, werden wahrscheinlich genau diejenigen sein, die uns schon die vergangenen Monate begleitet haben. Nimmt man mit der Champions League den Wettbewerb der besten europäischen Clubs als Massstab, war der Kern dieser Debatten in den finalen Runden der Gegensatz zwischen Ballbesitzfussball (Bayern München, FC Barcelona) und dem Versuch des schnellen, fast überfallartigen Umschaltspiels nach der Balleroberung (Real Madrid).
Der Glaubenskrieg um schnelles Umschalt- und Ballbesitzspiel – dabei gibt es eine Menge Gemeinsamkeiten.
Für Brasilien macht das erst einmal Hoffnung. Weil beide Konzepte auf attraktiven Fussball abzielen, darauf, sowohl in der Defensive wie in der Offensive immer zu agieren statt nur zu reagieren. Allemal wenn das schnelle Umschaltspiel so interpretiert wird, wie das Real Madrid und Borussia Dortmund in der zurück liegenden Saison taten, während José Mourinho mit Chelsea und dem wirklichen Gegenentwurf scheiterte, das Spiel des Gegners zu zerstören, statt ein eigenes zu spielen.
Die beiden Stile haben viele Gemeinsamkeiten
Warum dann aber die fast schon öffentlichen Glaubenskriege um schnelles Umschalt- und Ballbesitz-Spiel? Gute Frage. Denn was da medial wie üblich mit grossem Getöse und gleichsam religiösem Eifer gegeneinander in Stellung gebracht wurde, weist faktisch eine ganze Menge Gemeinsamkeiten auf.
Zumal beide Auffassungen des Spiels mit Ball eine weitgehend identische Strategie bei der Arbeit gegen den Ball als Basis haben. Hoch stehen, also mit dem hintersten Abwehrspieler weit weg vom eigenen Tor und oft fast auf Höhe der Mittellinie zu sein, gehört als Element genauso dazu wie der damit korrespondierende Ansatz, das gegnerische Aufbauspiel immer wieder sehr früh und oft schon tief in dessen Hälfte zu attackieren.
Ein dritter zentraler Baustein dieser Idee der Vorwärtsverteidigung ist das so genannte Gegenpressing. Sprich: der Versuch, den Ball, wann immer das möglich scheint, sofort nach seinem Verlust und schon dort, wo er verloren ging, wieder zurück zu erobern.
Daran muss erinnert werden, weil nach den – empfindlichen – Niederlagen der Bayern gegen Real, noch bevor das Flutlicht erloschen war, schon völlig in Vergessenheit geraten schien, dass Pep Guardiola in seinem ersten Münchner Trainerjahr auch die Kunst des Verteidigens auf neue Höhen geführt hatte.
Wie davor schon in Barcelona ist sie ein oft zu wenig beachteter Schlüssel zum Verständnis von Guardiolas Spielidee, die noch immer die aktuelle Spitze des Ballbesitz-Fussballs markiert. Einfach gesagt: Guardiola-Teams haben nicht nur deshalb so enorm hohe Ballbesitzzeiten, weil sie den Ball nicht mehr hergeben, wenn sie ihn haben, sondern auch weil sie ihn sich sofort zurück holen wollen, wenn sie ihn verlieren.
Mehr oder weniger Risiko, das ist die Frage
Der Unterschied zu Umschaltteams wie Real (in den Spielen gegen die Bayern) oder Dortmund, ist die weniger grosse Risikobereitschaft, wenn das Spiel nach vorne getragen wird. Heisst konkret: Die Überfallkommandos der schnellen Umschalter nehmen für die Aussicht auf eine Torchance auch gerne mal die Gefahr in Kauf, den Ball schnell wieder zu verlieren.
Wer mehr auf Spielkontrolle und Ballbesitz bedacht ist, versucht dieses Risiko tendenziell eher zu minimieren: indem der Ball noch einmal zurück oder quer gespielt und lieber geduldig nach der Lücke gefahndet wird, die den Passweg öffnet, um einen Angreifer in aussichtsreicher Position ins Spiel zu bringen.
Auch wer im Grundsatz den Ballbesitz favorisiert, nimmt gerne ein gutes Angebot zum schnellen und erfolgreichen Konter an-
Auf dem Platz gibt es in Reinkultur natürlich weder das eine noch das andere Modell. Weil erstens immer auch ein Gegner mit eigenen Ideen und Strategien da ist. Zweitens weil auch wer im Grundsatz den Ballbesitz favorisiert, gerne ein gutes Angebot zum schnellen und erfolgreichen Konter annimmt. Und drittens, weil, umgekehrt, aller Lust am schnellen Umschalten oder frühen Attackieren des Gegners zum Trotz, auch physische Grenzen gelten.
Den Gegner in der Sonne schmoren lassen
Allemal jetzt in Brasilien, wo neben dem jeweiligen Gegner vermutlich oft auch das Wetter eine Rolle spielen wird. Selbst wenn mittlerweile durchaus ernsthafte Sportwissenschaftler bezweifeln, dass Hitze und Luftfeuchtigkeit tatsächlich eine so grosse Bedeutung haben werden, wie viele es vorab befürchten – ohne Einfluss werden die teilweise extremen klimatischen Verhältnisse nicht bleiben. Zumal ja, um den europäischen Fernsehmarkt optimal bedienen zu können, auch in der Gluthitze der brasilianischen Mittags- und Nachmittagszeit gespielt werden muss.
Hier kann eine Komponente des Ballbesitz-Spiels ganz besonders an Bedeutung gewinnen: die, den Gegner über hohe Ballbesitzzeiten mürbe zu machen. Viel Vorstellungskraft braucht es jedenfalls nicht, um zu ahnen, wie frustrierend es sein kann, unter so extremen äusseren Bedingungen und trotz höchstem läuferischem Aufwand die Stafetten ballsicherer Gegner über sich ergehen zu lassen.
Vermutlich werden deshalb auch Teams, zu deren Stilistik es zählt, weit vorne zu attackieren, zumindest phasenweise eine weniger Kräfte zehrende Defensivarbeit hinter der Mittellinie betreiben; wie umgekehrt auch die Vertreter des schnellen Umschaltspiels nach vorne ein paar mal mehr als sonst, auf Bälle und Wege in die Tiefe verzichten werden.
Die Suche nach dem besten Rhythmus
Kurzum: Bei der Weltmeisterschaft wird es darauf ankommen, was in der Spitze des europäischen Clubfussballs schon länger die Frage aller Fragen ist: Wer kriegt die richtige Balance hin. Die Balance zwischen früh attackieren und sich auch mal erst weiter hinten in Stellung zu bringen und die Balance zwischen schnellem Umschalten nach der Balleroberung und dem Spiel auf Ballbesitz. Wer schafft es also, den Rhythmus so zu wechseln, dass er dabei seinen eigenen und einen den Umständen und dem Gegner angepassten findet.
Monothematische Zugänge zum Spiel, die sich entweder auf Destruktion oder alternativ auf offensive Qualitäten fokussieren, funktionieren dabei immer weniger. Weltmeister wird deshalb vermutlich nur werden, wer beim Spiel mit dem Ball auf höchstem Niveau agiert und gleichzeitig erstklassig verteidigt. Oder Glück hat.
Und egal, welchen Stil der kommende Weltmeister in der Vorwärtsbewegung vorrangig pflegt, wird er wahrscheinlich zusätzlich versuchen, mit Anleihen aus dem Repertoire anderer Stilrichtungen seine Möglichkeiten noch zu erhöhen.
Atletico hat gezeigt, was auch für weniger talentierte Teams möglich ist
Man darf sich als Fan und Beobachter also freuen. Auf guten Fussball. Und man darf gespannt sein. Auch auf Überraschungen. Atletico Madrid hat in der abgelaufenen Champions League-Saison eindrücklich bewiesen, wie weit man es mit gut organisierter und zugleich bedingungslos leidenschaftlicher Arbeit gegen den Ball bringen kann, selbst wenn die Möglichkeiten eingeschränkt sind, die man in der Vorwärtsbewegung besitzt.
Aber eben nur weil Atletico – anders als Mourinhos Chelsea – bei Ballbesitz trotz seiner eher überschaubaren Offensiv-Optionen immer nach fussballerischen Lösungen suchte. Man könnte auch sagen: Weil es eine Art Schweizer Riegel präsentierte auf der Höhe der Zeit.