Was dem 26.12. zur fröhlichen Weihnacht fehlt

Sie finden, dass es schon genug Fussball gibt? Dann lesen Sie dieses Plädoyer für noch mehr Fussball.

Feiertags-Belustigung: In der Premier League kann der Weihnachtsmann Fussball spielen. (Bild: Getty images)

Sie finden, dass es schon genug Fussball gibt? Dann lesen Sie dieses Plädoyer für noch mehr Fussball.

Es gibt in der Schweiz, wie auch in Deutschland oder andernlands, eine mässig kluge Regelung: die Winterpause im Fussball. Schon meteorologisch ist das fragwürdig. Meistens, zugegeben mit der Ausnahme 2010, denkt der Winter Mitte Dezember noch gar nicht an sein wirklich kaltes Dasein, sondern beglückt uns mit relativer Milde. Der Klimawandel kommt hinzu. Und dann ist da dieses Frühwinterspezialdatum: Weihnachten. Da haben die meisten Menschen Zeit, oft im Überfluss, besonders am 2. Feiertag – aber nirgends wird gespielt.

Das gehört geändert. Her mit dem Weihnachtsspieltag, wenn schon nicht in der Heiligen Nacht, dann am 26.12.

In Grossbritannien und Irland hat Fussball am sogenannten Boxing Day ein grosse Tradition. Wenn der Spielplan rauskommt, checken Fans den Auftakt ab, das Duell mit Stadtrivalen und – ob man, hoffentlich, am 26.12. ein Heimspiel hat. Der Deutsche Dietmar Hamann, der seine Fussballerkarriere grossteils in England verbracht hat, berichtet von «einer ganz besonderen Stimmung», wenn Fans im Familienverbund anreisen, die Stadien noch voller gepackt und atmosphärischer sind als sonst schon. «You’ll never walk alone» statt «Jingle Bells», Fussballzirkus statt Festbraten, Old Trafford statt Old Grandma: In der Premier League ist für die Spieler Weihnachten in der Familie unbekannt. Heiligabend ist Training, am 1. Feiertag Teamtreffen und Anreise, am 2. der Match. Und am 29.12. meist der nächste.

66 Tore zu Merry Christmas

Historiker wissen um Rekorde: Weihnachten 1963 gab es den torreichsten Spieltag der Geschichte: 66 Tore in 10 Spielen, darunter Burnley-Manchester United 6:1 und Fulham-Ipswich 10:1. Dabei schaffte Fulhams Schotte Graham Leggat mit drei Treffern in weniger als vier Minuten den schnellsten Hattrick der Ligageschichte. Merry Christmas. Weihnachtsfussball bedeutete ­traditionell auch den schlammigsten, urigsten Kick des Jahres – welch schöner Kontrast zu den Sonntagsanzügen und feinen Kleidchen an Xmas.

Bis in die 60er-Jahre wurde sogar am 26. und 27. direkt hintereinander gespielt, traditionell Derbys unter Nachbarn wie Tottenham–Arsenal oder Everton–Liverpool, quasi mit Hin- und Rückspiel. Heute machen die Fernsehsender den 26. wieder ein bisschen kaputt, weil Partien zur Livespiel-Maximierung auf den 27. terminiert werden. Deshalb haben die Spiele am 26.12. auch gestaffelte Anstosszeiten. Für Christmas-Groundhopper wiederum ist das eine wahre Verheissung: Sie können locker drei Matches live nacheinander gucken.

Und bei uns? Ist nix mit Weihnachtsfussball. Stattdessen sehen viele Fans einem 26.12. ins Auge, der Besuche mit der ganzen Familie bei Tante Anneliesli zu Filet im Teig vorsieht oder Zuger Kirschtorte bei Grossmami und Grosspapi. Ergänzt um besinnliche Spaziergänge und ein gemütliches Beisammensein am Abend. Wie schön wäre da ein Bundesligaspiel oder Super-League-Match!

Von Brisbane bis Brügge

Rückblick auf den 26. Dezember 2010: Laut «kicker.de» finden weltweit 83 Spiele in 12 Ligen statt, die meisten auf der Insel. Der Bildschirm bringt den Fussball nach Hause, über Pay-TV und Internet-Livestream. Noch bevor die Kirchenglocken bimmeln, läuft morgens ab 7 Uhr das erste Spiel in Australien. Um 9 Uhr wird im Sommerregen von Brisbane, der sich bald zur Jahrhundertflut ausweitet, das Queensland-Derby gegeben, Tabellenführer Brisbane Roar FC gegen Gold Coast United. 40 000 Zuschauer im Suncorp Stadium. Spannend und ansehnlich ist es, und erst ein alberner Weihnachtselfmeter rettet dem Favoriten das 2:2.

Zur mitteleuropäischen Mittagszeit trifft Dimitar Berbatow doppelt bei Manchester Uniteds 2:0 gegen Sunderland. Ab Tagesmitte spielt England quasi pausenlos seinen 19. Spieltag herunter. Zwischendurch umschalten nach Schottland zu den Siegen der Rangers und von Celtic. Ausserdem erwärmender Beach­soccer aus Brasilien, dazu der Final der Südostasienmeisterschaft, Malaysia–Indonesien (3:0), dann erste Liga live aus Tunesien und Marokko sowie das Topspiel aus Saudi-Arabien, bei dem eine Art Fussball-Muezzin ständig über Lautsprecher das Spiel besingt. In Aserbaidschan ist der Spieltag 26.12. kurzfristig verlegt worden, somit entfällt grosse Kunst bei Qarabag Agdam– FC Qäbälä.
Auch in Belgien steht seit 2009 der 26.12. auf dem Spielplan. Viele Experten hatten ein Zuschauer-Desaster prophezeiht, aber es kamen teilweise mehr Leute als sonst. Einige der traditionell vielen Gastprofis aus Afrika und Südamerika hatten allerdings gemosert: Sie waren es gewohnt, ab Mitte Dezember für zwei Wochen zu ihren Familien zu reisen. Das ist vorbei.

Bei Cercle Brügge–Standard Lüttich (1:0) fliegt der einschlägig vorbestrafte Rüpel Alex Witsel (inzwischen von Lüttich zu Benfica Lissabon gewechselt) nach einer wüsten Grätsche rasch vom Platz. Er verlässt das Spielfeld und wirft Kusshände ins wütend tobende Publikum. Will Witsel schneller unter den Baum? Später sitzt er auf der Tribüne und bekommt – wir feiern das Fest der Versöhnung – von einheimischen Fans ein paar Stückchen Weihnachtsschokolade. Danach ist in Gent das Stadion gegen Club Brügge (0:2) vollgepackt, die Fans haben sich Blinklichter-Girlanden um den Kopf gebunden. Und überall sieht man Weihnachtsmänner-Versammlungen auf den Tribünen. Leider fällt am Abend das Spiel der AS Eupen wegen Schnee aus.

Die seltenen Ausnahmen

Einmal, 1961, hat es in der Schweiz zu Weihnachten und Silvester Fussball gegeben (siehe nächste Seite). Und in Deutschland am Montag, 26. Dezember 1977, bei bestem Winterwetter, die grosse Ausnahme: ein Weihnachtsspiel. Sechs Tage zuvor hatten sich im Pokalviertelfinal Schalke 04 und Fortuna Düsseldorf nach Verlängerung 1:1 getrennt. Elfmeterschiessen war noch nicht vorgesehen, weil im Pokal erst 1984 eingeführt. Also: Wiederholungsspiel. An Weihnachten. Es gab keine Alternative.

Die Fortuna hatte im alten Rheinstadion (Fassungsvermögen damals 68 000) mit höchstens 30 000 Zuschauern gerechnet. Und dann setzte die Weihnachtsstampede ein. «Da niemand von den damals Verantwortlichen auch nur ansatzweise damit gerechnet hatte, dass die Resonanz derart gewaltig sein würde, sah man sich mit der Bevorratung von 50 000 Tickets im sicheren ­Bereich», heisst es in den Annalen des ­Vereins. Das sollte allerdings nicht reichen. Zudem: Nicht alle Eintrittskarten lagen an den Kassenhäuschen.

Der damalige Fortuna-Vizepräsident Hans Noack, heute 82, erinnert sich: «Das war eine eigenartige Konstellation, weil wir nur drei Arbeitstage für die Organisation hatten. Dann kamen die Massen, solche Massen von Leuten. Ich dachte nur: Du lieber Gott, was soll das werden! Offenbar wollten alle zuhause weg, ab zum Fussball.» Auf den Stras­sen Verkehrschaos, die Strassenbahnen brechend voll. Noack: «Und die Schlangen an den Kassen wurden nicht kürzer. Dann waren alle Karten weg, und wir in heller Aufregung.»

Fortuna versuchte eine Notopera­tion. Die Geschäftsführerin wurde auf einem Polizeimotorrad zum Büro im zehn Kilometer entfernten Flinger Broich gefahren, dort lag ein fünfstelliger Reservesatz an Karten. Und sie musste Wechselgeld besorgen, das hatte nämlich auch nicht gereicht, weil viele mit grossen Scheinen zahlten – Weihnachtsgeschenke vermutlich. Die Fans murrten derweil und begannen das ­Stadion zu stürmen. In den Zeitungen stand tags darauf einerseits «Süsser die Kassen nie klingeln…», es wurde aber auch von «niedergewalzten Ordnern» und «demolierten Kassenhäuschen» berichtet. Etwa 10’000 Fans, manche meinen auch mehr, kamen umsonst rein, viele Hundert erst zur Pause. ­Deutscher Schwarzseher-Rekord.

Brauchen die Spieler eine Pause?

Fortuna gewann gegen den Favoriten Schalke mit 1:0. Das Tor fiel in der zweiten Halbzeit, als wirklich alle im Stadion waren. Und mit den Gelsenkirchenern gab es – die Nettoeinnahmen wurden zwischen den Clubs geteilt – noch lange Auseinandersetzungen um die Abrechnung der verkauften Karten. Schalke sah sich betrogen, weil Fortuna so schlecht organisiert war. Zu Oberligazeiten, also vor Bundesligagründung 1963, war der 2. Weihnachtstag sogar ein sehr beliebter Termin für grosse Freundschaftsspiele, wie Noack erzählt, «und meist sehr gut besucht». Kirchenproteste habe es selbst in der dumpfen Adenauerzeit nie gegeben.

Hans Noack wurde später Spielleiter beim Deutschen Fussball-Bund. Dort, berichtet er, habe man immer mal wieder über eine reguläre Runde am 26.12. nachgedacht («Ich persönlich fände den Spieltag Weihnachten toll»), aber mit ­jedem Jahr sei der Terminplan enger geworden. «Und was glauben Sie, was das für Kämpfe um die Heimspiele für diesen Tag gegeben hätte.» Die Nachfrage ist also da, aber der Funktionär glaubt, das geht heute nicht mehr: «Die Spieler müssen ja auch mal Pause haben. Das hätte man, wie in England, viel früher beginnen müssen.» Andererseits: In England geht es ja auch – bis heute.

Was für den 26.12. spricht

Alles spricht für Weihnachtsfussball: Heiligabend und ein Feiertag ist genug Christenfest und Völlerei. Wenn am 26.12. Spieltag ist, lässt sich tags zuvor das langatmige Familienfest viel gelassener aushalten – Balsam für den innerfamiliären Frieden. Oder: Die Familie geht mal gemeinsam ins Stadion, wenn man den Liebsten eine weihnachtliche Eintrittskarte unter den Christbaum legt. Zusatznutzen: Man hat ein Geschenkproblem weniger. Dauerkarteninhaber, die über Weihnachten verreist sind, können Freunde oder Kollegen mit ihrem Billett glücklich machen und womöglich für den eigenen Lieblingsclub anfixen. Oder, noch besser, man verzichtet wegen eines wichtigen Heimspiels auf die Flugreise in den Süden oder den Skiurlaub – das schont die Haushaltskasse. Und es wäre ökologisch sehr begrüssenswert – womöglich wird durch Weihnachtsfussball das Klimaproblem gelöst, jedenfalls ein Stück weit.

Oder vielleicht auch nicht. Das Winterwetter ist nämlich vor allem wegen der Erfindung der Rasenheizung kein Gegenargument mehr. Ein Spieltag mehr im Winter entzerrt zudem den Terminplan im Sommer. Die Polizei wird sich über Einsätze freuen, das gibt Feiertagszuschläge und erspart das unbezahlte Ausrücken zum Götti oder zur Schwägerin. Die TV-Sender müssten nicht die ewig gleichen Schund­­­­filme runternudeln. Und bitte, wenn 2022 die WM in Katar vielleicht im Winter gespielt wird, ist der 26.12. womöglich Spieltag. Da kann mit der Gewöhnung nicht früh genug begonnen werden.

Fussball in der Winterpause
An Heiligabend wird in Schottland eine komplette Runde gespielt. Am 1. Weihnachtsfeiertag ruht der Spielbetrieb weitgehend, nur in Israel sind zwei Partien angesetzt. Dafür sind allein am 26.12. im Matchkalender (kicker.de) 70 Spiele aufgeführt. Eins davon in Neuseeland, die meisten in England. Einige Highlights:26.12., England: Chelsea-Fulham (14.00/Teleclub), Manchester Utd–Wigan (16.00/TC). – 27.12., England: Swansee–Queens Park Rangers (18.00/TC), Norwich–Tottenham (20.30/TC). – 28.12., Schottland: Celtic–Rangers. – 29.12., England: Liverpool–Newcastle (20.45/TC). – 31.12., England: Manchester Utd–Blackburn (13.45/TC), Chelsea–Aston Villa (16.00/TC). –1.1., England: Sunderland–Manchester City (16.00/TC).

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23/12/11

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