Am Schluss steht er wieder ganz oben: Marcel Hirscher. Der Österreicher holt sich die grosse Kristallkugel und bleibt ein Phänomen. Warum? Unser Autor hat genau hingesehen.
Zugegeben, der Skiweltcup hat schon einmal spannendere Schlussphasen erlebt. Die meisten Entscheidungen sind schon vor den letzten Saisonrennen gefallen. Die Triumphatoren des Winters stehen schon vorab fest. Lara Gut und Marcel Hirscher reisten bereits als neue Gesamtweltcupsieger nach St.Moritz.
Und beide mussten mit ähnlicher Kritik leben: Sie hätten nur dank Ausfällen gewonnen. Warum Lara Gut zu recht gewonnen hat, haben wir an dieser Stelle bereits geschrieben. Gilt das auch für Marcel Hirscher? Kritiker behaupten, der Österreicher habe den Erfolg auch der Knieverletzung von Aksel Lund Svindal zu verdanken.
Der Norweger hatte die erste Saisonphase dominiert und den Weltcup angeführt, ehe er nach einem schweren Sturz in Kitzbühel mit einem Kreuzbandriss den Winter vorzeitig beendet musste. Ob Hirscher auch in einem Duell mit Svindal die Nase vorne gehabt hätte?
Die Akribie
Marcel Hirscher beschäftigt sich fast rund um die Uhr mit dem Skifahren und überlässt bei der Materialabstimmung nichts dem Zufall. Er hat mit seiner Skifirma Atomic selbst einen Slalomski entwickelt, auf den nur er zurückgreifen darf. «Der Marcel ist ein Perfektionist überall. Er ist der beste Skifahrer der Welt, der auf dem Gebiet sehr viel Erfahrung und ein sehr gutes Gefühl hat, das uns bei der Entwicklung der Ski weiterbringt», erklärt Atomic-Rennchef Christian Höflehner.
Als im Februar der Franzose Alexis Pinturault plötzlich einen Riesentorlauf nach dem anderen gewann, tüftelte Hirscher tagelang am Material herum und fand die Lösung in einem winzigen Detail. «Ich habe den Druck von Alexis gespürt, denn er hat gezeigt, dass er im Moment der Boss im Riesentorlauf ist», erklärt Hirscher, der nur eine Kleinigkeit änderte, die niemandem auffiel. Auch niemandem auffallen konnte. «Ich habe nur einen halben Millimeter am Setup verändert. Manchmal kann ein halber Millimeter die ganze Skiwelt ändern.» Prompt war Hirscher im Riesentorlauf von Kranjska Gora wieder der Schnellste.
Mit seiner Besessenheit setzt Hirscher freilich auch sein Umfeld unter Druck, denn er erwartet von seinen Betreuern den gleichen Einsatz und Ehrgeiz. Nach dem Gewinn der fünften Kristallkugel galt Hirschers Dank daher auch der Familie und den Betreuern. «Ich weiss, dass es mit mir nicht immer einfach ist.»
Die Nervenstärke
Irgendwie ist dieser Marcel Hirscher durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Der 27-Jährige erlebte in diesem Winter aufregende Momente, wie sie anderen Skifahrern während ihrer gesamten Karriere nicht passieren. Nur ein Auszug: In Alta Badia wurden ihm die Rennski gestohlen, in Madonna di Campiglio stürzte während der Slalomfahrt eine Drohne wenige Meter hinter Hirscher auf den Boden, in Schladming war das Glas in seiner Skibrille verkehrt eingesetzt – aber von keinem dieser Missgeschicke und Pannen hat sich Hirscher aus der Bahn werfen lassen.
Auch die riesige öffentliche Erwartungshaltung scheint an ihm abzuprallen: Auf Grund der vielen Verletzungen im österreichischen Team lastete in diesem Winter die ganze Verantwortung auf Hirscher. Aber er hielt dem Druck stand, mehr noch: er sammelte so viele Weltcup-Punkte, wie noch nie zuvor.
Für Hirscher war die Heim-WM 2013 in Schladming die grosse Reifeprüfung. Dort hatte die ganze Skination Österreich von ihm am Schlusstag die Goldmedaille im Slalom erwartet. «15 Minuten vor dem Start hab ich leider angefangen, über dieses Rennen und das ganze Leben nachzudenken. Vier Millionen Österreicher schauen zu, alleine 40’000 hier auf dem Berg. Was passiert, wenn ich einfädle? Oh mein Gott, die werden mich töten», erinnert sich Hirscher.
Die Konstanz
Marcel Hirscher ist auch die Verlässlichkeit in Person. Der 5-fache Gesamtweltcupsieger leistet sich kaum Ausrutscher und zeigt praktisch keine Schwächen. In den vergangenen 42 (!) Weltcup-Riesentorläufen kam der Österreicher immer ins Ziel – und das mag etwas heissen bei dem riskanten Fahrstil, den der Österreicher pflegt. Die Ausfälle im Slalom lassen sich in seiner Karriere an einer Hand abzählen.
Die Allroundfähigkeiten
Der 27-Jährige ist längst kein reiner Technik-Spezialist mehr. Hirscher hat sich über die Jahre zu einem guten Speedfahrer entwickelt, auch weil er dafür mittlerweile das nötige Gewicht auf die Waage bringt. In diesem Winter feierte Hirscher in Beaver Creek sogar seinen ersten Sieg in einem Super-G, in dieser Disziplin holte er auch den entscheidenden Vorsprung auf Henrik Kristoffersen heraus, der norwegische Konkurrent verzichtete auf Starts im Super-G.
Auch wenn er Gefallen an den hohen Geschwindigkeiten gefunden hat («Das Super-G-Fahren taugt mir immer mehr»), auf Abfahrten wird sich der amtierende Kombi-Weltmeister vorerst noch nicht wagen. «Wenn ich das mache, muss ich mit den technischen Events aufhören, und das ist nicht mein Plan. Die Abfahrt ist ein anderer Sport, um da schnell zu sein, muss ich mit den schnellen Bewegungen aufhören.»
Das Team
Marcel Hirscher geht beim Österreichischen Skiverband seine eigenen Wege. ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel, der zugleich auch der Manager des Superstars ist, erlaubt Hirscher viele Freiheiten – auch weil er damit erfolgreich ist. Der 27-Jährige hat in den vergangenen Jahren systematisch ein Team im Team um sich geschart: mit eigenen Trainern, eigenem Physiotherapeut, eigener Servicecrew und auch einem eigenen Medienbetreuer.
Der wichtigste Einflüsterer und Berater von Marcel Hirscher ist allerdings sein Vater Ferdinand, der sich meist irgendwo im Hintergrund auf der Piste aufhält und oft noch eine Minute vor dem Rennstart mit Hirscher telefoniert und ihm Ratschläge gibt. Dieser telefonische Informationsaustausch findet auch bei den Übersee-Rennen statt, die Hirschers Vater wegen seiner Flugangst nur im Fernsehen verfolgt.