Weniger Video, weniger Frust

Wann genau soll der Videobeweis zur Anwendung kommen? In der Fussball-Welt glühen die Köpfe. Nun sollen in Zürich neu ausgearbeitete Ansätze den Ärger lindern.

Fehlende Klarheit: Der Videobeweis führt in der Praxis zu Schwierigkeiten. (Bild: Keystone)

Man müsste vielleicht einen Sprachvirtuosen wie Peter Handke oder einen grossen Literaten wie Martin Walser bitten, eine unmissverständliche Formulierung für ein grosses Gegenwartsproblem des Fussballs zu suchen. Zwei, drei sauber durchdachte Sätze. Solche, die möglichst alle Interpretationsspielräume ausschliessen.

Das könnte schon ausreichen, um den Berg der Missverständnisse aus der Welt zu schaffen, unter dem die Idee des Videobeweises derzeit erdrückt wird. Weniger begabte Rhetoriker wie der DFB-Präsident Reinhard Grindel neigen nämlich dazu, sich gehörig zu verzetteln, wenn sie beantworten müssen, wann genau der Videobeweis eingesetzt werden soll. «Es geht um die Vermeidung von Wahrnehmungsfehlern, es geht nicht darum, Schiedsrichterfehler zu korrigieren», hat Grindel am vorigen Wochenende erläutert. Die Fussballnation war entsetzt.

«Klare Fehlentscheide» und die schwierige Frage der Definition

Ein Videoassistent, der keine Schiedsrichterfehler korrigieren soll? Nein, nein, so war es doch nicht gemeint, am Abend stellte Grindel klar, dass er sich ungeschickt ausgedrückt habe und verkündete: «Der Video-Assistent soll sich strikt an das Protokoll des IFAB halten, sprich nur bei ganz klaren Fehlentscheidungen einschreiten.»

An genau diesem Punkt hat das Projekt im August begonnen. Der grosse Haken: Bisher ist es niemandem gelungen, eine ebenso überzeugende wie schlichte Definition für das Wortpaar «klare Fehlentscheidung» zu formulieren.

Dieses Problem stand nun im Mittelpunkt eines Workshops, zu dem alle in das Projekt involvierten Verbände nach Zürich eingeladen worden waren. «Wir sind dabei, den Experiment-Teilnehmern zu helfen, besser zu definieren, wann sie tatsächlich eingreifen können», fasste Lukas Brud die drängendste Aufgabe für die nächsten Wochen zusammen.

Wann ist ein Eingriff erforderlich oder nicht – diese Frage steht überall im Raum.

Brud ist Geschäftsführer des globalen Regelgremiums IFAB, er koordiniert die Tests der unterschiedlichen Verbände und sagt: «Wir dürfen nicht vergessen, dass wir immer noch in der Experimentierphase sind und manche Kinderkrankheiten noch behoben werden.» Wobei natürlich offen ist, ob es sich bei der bislang vergeblichen Suche nach einer Definition für die «klare Fehlentscheidung» tatsächlich um eine Kinderkrankheit handelt. Oder ob hier nicht eher ein unlösbares Problem vorliegt.

In Portugal und in Australien führt die Grauzone zwischen «unzweifelhaft falsch» und «suboptimal, aber noch vertretbar» zu ähnlich hitzigen Debatten wie in Deutschland. In Italien und Holland sind Fans und Öffentlichkeit zwar bislang weniger kritisch; die Frage, wann ein Eingriff erforderlich ist und wann nicht, steht aber überall im Raum.

Ein erster Schritt sei nun zu sagen, «weniger ist manchmal mehr», berichtet ein Kongressteilnehmer. Das ist zumindest für die Bundesliga ein Paradigmenwechsel.

Neue Zurückhaltung

Der inzwischen abgesetzte Projektleiter Hellmut Krug hatte noch den unglücklichen Plan verfolgt, nicht nur bei unstrittigen Fehlern, sondern auch «in schwierigen Situationen» einzugreifen. Nach einem Saisondrittel haben die Schiedsrichterfunktionäre den Vorsatz gefasst, unbedingt zurückhaltender zu agieren.

Ein sehr überzeugendes Argument für diese Strategie lieferte übrigens eine kaum wahrgenommene Szene aus dem Topspiel zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern am vorigen Spieltag. Dort grätschte Dortmunds Sokratis nach 15 Minuten hoch riskant als letzter Mann, verfehlte den Ball und traf das Bein des Münchners Robert Lewandowski.

Statt zur zwingend erforderlichen roten Karte und einem Freistoss führte die Aktion zur interessanten Erkenntnis: Wenn der Videoassistent sich raushält, obwohl eine Korrektur erforderlich wäre, entsteht nicht das Gefühl der schreienden Ungerechtigkeit, das dann aufkommt, wenn der Videoassistent eingreift, ohne dass ein für jeden klar erkennbarer Schiedsrichterfehler vorliegt.

Künftig sollen die Assistenten also lieber mal einen Fehler ihres Chefs auf dem Rasen unkorrigiert lassen, wenn sie sich nicht ganz sicher sind. Stellt sich nur eine Frage: Die Herren im Hintergrund, die in den ersten Monaten mit der neuen Technik dem Eindruck nach zur Wichtigtuerei neigten, werden sie diese neue Zurückhaltung aushalten können?

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