In Oberstdorf heisst es am Dienstag Schanze frei für die 64. Vierschanzentournee. Wird Peter Prevc seiner Favoritenrolle gerecht? Wer hat das Zeug zum Shooting Star? Und geht für Simon Ammann der Traum vom Gesamtsieg in Erfüllung? Unser Autor bietet einen Überblick über die Springer, vom Topfavoriten bis zum Überraschungskandidaten.
Der Topfavorit
Entweder ist Peter Prevc ein notorischer Zweckpessimist oder er fühlt sich gerade wirklich nicht in Form. Möglicherweise will der Slowene aber auch nur die Konkurrenz in Sicherheit wiegen, wenn er vor dem ersten Bewerb in Oberstdorf sagt. «Ich bin nicht der Tourneefavorit.» Und das aus dem Munde eines Springers, der die letzten drei Wettkämpfe gewonnen hat und in diesem Winter nur einmal schlechter als Zweiter war.
Der 23-Jährige schwebt derzeit in anderen Sphären und präsentiert reihenweise Sprünge und Telemark-Landungen wie aus dem Adler-Lehrbuch. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis er in den elitären Kreis jener Springer aufsteigt, die von den Wertungsrichtern fünf Mal die Höchstnote 20,0 bekommen.
Die letzten zehn Gesamtsieger | |
2015 | Stefan Kraft |
2014 | Thomas Diethart |
2013 | Gregor Schlierenzauer |
2012 | Gregor Schlierenzauer |
2011 | Thomas Morgenstern |
2010 | Andreas Kofler |
2009 | Wolfgang Loitzl |
2008 | Janne Ahonen |
2007 | Anders Jacobsen |
2006 | Janne Ahonen/Jakub Janda |
Prevc hätte sich auch längst einmal einen Titel verdient. Denn in seiner Karriere hatte der hochbegabte Slowene allzu oft schon den Kürzeren gezogen. Wer erinnert sich nicht an den letzten Weltcupwinter, als er am Ende gleich viele Punkte auf dem Konto hatte wie Severin Freund, die Kristallkugel aber dem Deutschen überlassen musste, weil dieser mehr Tagessiege auf dem Konto hatte.
Der «Local Hero»
Severin Freund bringt eine der wichtigsten Eigenschaften mit, die bei der Vierschanzentournee gefragt sind: Konstanz auf höchstem Niveau. Der Flugschreiber des Deutschen wirft beeindruckende Daten aus: In den letzten 25 Weltcupbewerben war Freund nur einmal nicht in den Top Ten und konnte 15 Podestplätze verbuchen.
Diese Beständigkeit macht den 27-Jährigen zwangsläufig zu einem heissen Anwärter auf den Gesamtsieg, zumal bei der Vierschanzentournee nicht die Tagesplatzierungen zählen, sondern am Ende die Punkte aller vier Springen addiert werden.
Wenn er oder einer seiner österreichischen Teamkollegen den Titel verteidigen könnte, wäre das eine grosse Überraschung: Stefan Kraft mit der Adler-Trophäe des Gesamtsiegers der Vierschanzentournee. (Bild: imago sportfotodienst)
Spannend wird es sein, wie Severin Freund und seine Teamkollegen mit den hohen Erwartungshaltungen zurechtkommen. Seit 2002 (Sven Hannawald) fliegen die deutschen Skispringer dem prestigeträchtigen Tourneesieg nun schon hinterher. Freunds Erfolge der vergangenen Jahre (Weltmeister, Weltcup-Gesamtsieger, Teamolympiasieger) nähren die Hoffnung auf ein Ende der Negativserie.
Gewöhnlich werden die deutschen Adler nur von einer Handvoll Journalisten begleitet, beim Schanzenklassiker sind die Athleten nun mit einem enormen Medienecho konfrontiert. In der Vergangenheit sind die deutschen Favoriten gerade daran oft gescheitert und hatten schon bei den Heimspringen in Oberstdorf und Garmisch vorzeitig die Chance auf den Gesamtsieg verspielt.
Werner Schuster, der österreichische Cheftrainer der DSV-Springer, stimmte seine sensiblen Sportler daher mit einer ungewöhnlichen Massnahme ein. Er liess im Sommer innerhalb von zehn Tagen die gesamte Tournee simulieren und reiste mit den Springern von Schanze zu Schanze. Sogar die Hotelbetten waren die gleichen wie nun im Winter. «Nur die Statisten für die 20.000 Zuschauer haben wir nicht besorgen können», schmunzelt Schuster.
Die Vierschanzentorunee 2015/16 | ||
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Montag | 28. Dezember | Oberstdorf – Qualifikation |
Dienstag | 29. Dezember |
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Donnerstag | 31. Dezember | Garmisch-Partenkirchen – Qualifikation |
Freitag | 1. Januar |
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Samstag | 2. Januar | Innsbruck – Qualifikation |
Sonntag | 3. Januar |
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Dienstag | 5. Januar | Bischofshofen – Qualifikation |
Mittwoch | 6. Januar |
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Der Pechvogel
Ob das wirklich noch einmal etwas wird mit dem grossen Traum des Toggenburgers, der immer mehr zum Trauma zu werden scheint? Seit Jahren jagt Simon Ammann nun schon dem Tourneesieg hinterher, der letzten bedeutenden Trophäe, die dem Schweizer in seiner Sammlung noch fehlt. Doch entweder traf er bei der Tournee auf einen Rivalen in Überform oder er befand sich selbst nicht ganz auf der Höhe.
Es ist ohnehin ein mittleres Wunder, dass der 34-Jährige auch heuer wieder in Oberstdorf beim Tourneestart aufkreuzt. Der schwere Crash beim letzten Tourneefinale in Bischofshofen hätte beinahe die erfolgreiche Karriere vorzeitig beendet. Doch so ein abruptes Ende voller Schmerzen und Enttäuschungen hätte sich dieser Simon Ammann auch nicht verdient. Mit einer neuen Landetechnik versucht der Routinier nun erneut sein Glück.
Mit der aktuellen Landung müsste Ammann deutlich weiter springen als die Konkurrenz, um den Traum vom Tournee-Triumph wahr werden zu lassen.
Doch der Schweizer steckt im Dilemma: Im Skispringen geht’s leider nicht nur um die Meter, es geht auch darum Haltung zu bewahren. In Sachen Weite liegt der 34-Jährige gar nicht einmal so weit hinten, im Adidas-Distance-Award, bei dem alle Sprünge addiert werden, ist Ammann sogar die Nummer sechs der Welt.
Aber weil der Familienvater bei der Landung immer noch seine liebe Not hat und der elegante Telemark bei ihm meist wie ein plumpes Kacherl aussieht, wird es wohl auch in diesem Jahr nichts mit dem Tourneesieg werden. Außer Ammann springt in jedem Bewerb 20 Meter weiter als die Konkurrenz.
Der Senkrechtstarter
Wer kennt eigentlich Kenneth? Das war die Frage, die bei den ersten Springen dieser Saison an den Schanzentischen herum ging. Denn dieser Kenneth Gangnes tauchte wie aus heiterem Himmel in der Weltspitze auf und schwebt in diesem Winter plötzlich auf Wolke sieben. Sieg in Lillehammer, dazu zwei weitere Podestplätze, Rang drei im Gesamtweltcup – der norwegische Nobody aus Gjøvik verblüffte alle – sogar seinen Trainer.
«Ich habe eher mit anderen Leuten aus meinem Team gerechnet», gesteht der norwegische Chefcoach Alexander Stöckl. Immerhin hatte der 26-jährige Gangnes vor dem Katapultstart in diesen Winter gerade einmal einen 41. Rang (Gesamtweltcup 2014/15) sowie einen 45. Platz (Tournee 2011/12) vorzuweisen. «Irgendwie ist in unserem Team eine positive Dynamik entstanden», sagt Trainer Stöckl.
Der Lokalmatador
Sieben auf einen Streich – das war das Motto bei der Vierschanzentournee, die in den letzten Jahren ganz im Zeichen der Österreicher stand. Seit 2009 kam der Sieger immer aus dem Lager der ÖSV-Springer und was diese Erfolgsserie noch beeindruckender macht: Mit Wolfgang Loitzl, Andreas Kofler, Thomas Morgenstern, Gregor Schlierenzauer, Thomas Diethart und Stefan Kraft konnten sich sechs verschiedene Springer in die Siegerliste eintragen.
Sieben österreichische Siege in Folge, sechs verschiedene Springer – diese Serie dürfte abreissen.
Doch nun dürften die Österreicher ihre Lufthoheit verloren haben: in dieser Saison schaffte lediglich Michael Hayböck den Sprung in die Top drei. Der 24-Jährige hat aber bereits bewiesen, dass er bei der Tournee zu Hochform auflaufen kann. Im vergangenen Jahr wurde Hayböck Zweiter, nun traut er sich den ganz grossen Coup zu. «Ich habe sehr gut trainiert, die Formkurve zeigt nach oben.»
Die Alterserscheinung
Noriaki Kasai gehört längst zum Inventar der Tournee und der Platz in den Geschichtsbüchern des Skispringens ist dem Japaner gewiss. Kaum vorstellbar, dass sich noch einmal ein Springer findet, der mit 42 Jahren noch einen Weltcupbewerb gewinnt (Kuusamo 2014) und mit 43 noch einmal von einem Siegerfoto lächelt (Engelberg 2015). Als der nimmermüde, immerfröhliche Japaner 1988 erstmals im Weltcup abhob, waren die meisten seiner heutigen Konkurrenten noch nicht einmal auf der Welt. Zuletzt in Engelberg war Kasai älter als seine beiden Podest-Kollegen zusammen.
Zwei Brüder und einer, der ihr Vater sein könnte: Domen (Mitte) und Peter Prevc in Engelberg auf dem Podest mit Noriaki Kasai (rechts). (Bild: imago sportfotodienst)
Die Alters-Erscheinung, die so gar keine Alterserscheinungen zeigt, ist jedenfalls eine echte Bereicherung für den internationalen Skisprungsport. Und würde man unter den Fans und den Kollegen eine Umfrage starten, wer sich den Tourneesieg am meisten verdient hätte, dann würde die Antwort eindeutig ausfallen: Noriaki Kasai.
Der Rätselhafte
Nimmt man nur die jüngsten Ergebnisse, dann dürfte Gregor Schlierenzauer nie und nimmer in der Liste der Tourneefavoriten erscheinen. Zieht man die einzigartige Karriere des Ausnahmespringers (53 Weltcupsiege) in Betracht, dann muss man den 25-Jährigen auf der Rechnung haben.
Gerade weil er sich nun in Oberstdorf nach einer freiwilligen Schaffenspause zurückmeldet und sich dabei gelöst und zuversichtlich präsentiert wie in alten Tagen, als er allen um die Ohren sprang und zwei Mal die Tournee gewann. «Ich weiss, dass ich nicht der Topfavorit bin», sagte Schlierenzauer nun in Oberstdorf vor 50 Journalisten, die alle nur wegen ihm ins österreichische Teamhotel gekommen waren. «Ich brenne aber, und es kann im Sport schnell gehen. Wenn einer über Nacht wieder ein Springen gewinnen kann, dann bin ich es.»