WM-Zwischenbilanz: Wir erleben einen wunderbaren Sommer der Anarchie

Vor dem ersten Viertelfinal zieht unser Autor in Russland Bilanz: Die Weltmeisterschaft war bisher ein Manifest für die urwüchsige Kraft des Fussballs und eine Niederlage für alle Planer, Optimierer und Wahrscheinlichkeitsfanatiker.

Noch ist die Luft noch nicht ganz draussen. Aber nach 56 von 64 Spielen ist es Zeit für ein Zwischenfazit der WM in Russland.

Die Statistiker haben vor den Viertelfinals der 21. Fussball-Weltmeisterschaft natürlich ein paar Daten für uns. Daraus erschliesst sich zum Beispiel, dass keiner der noch im Turnier befindlichen Spieler jemals ein WM-Finale bestritten hat.

Ausserdem wird wie immer seit 1954 mindestens ein europäisches Team im Finale stehen, und wie bei den letzten beiden Turnieren auf dem Alten Kontinent (1998, 2006) bestreiten sechs «heimische» Mannschaften das Viertelfinale. Schliesslich werden wir von der Zahlenabteilung informiert, dass seit Einführung der Weltrangliste die addierten Positionen der acht Viertelfinalisten noch nie eine schlechtere Rangierung ergaben.

Nur: Wen interessiert die Weltrangliste? Und was sagen Statistiken? Nie weniger als bei dieser WM.

Es ist ein schlechtes Turnier für Fussballerklärer. Es entzieht sich bisher allen Theoremen und Deutungsmustern. Die Mannschaft mit dem meisten Ballbesitz verliert oft, aber auch nicht immer. Und was die Spielsysteme betrifft, so wählen von den acht Viertelfinalisten zwei ein 4-3-3 (Frankreich, Brasilien), zwei ein 4-4-2 (Uruguay, Schweden) und je einer ein 4-2-3-1 (Kroatien), ein 5-4-1 (Russland), ein 3-4-3 (Belgien) und ein 3-5-2 (England).

Mit einer massierten Abwehr und beinahe ohne Ballbesitz findet der Gastgeber zum Erfolg gegen den Weltmeister von 2010: Russland (weiss) bezwingt im Achtelfinal die Spanier im Elfmeterschiessen.

Es gibt keine neuen Trends, keine abkippenden Sechser, falschen Neuner oder sonstigen Hybriden. Nicht mal Vintage-Trends – das Comeback der Dreierkette ist nun schon ein paar Jahre alt und der Mittelstürmer war nie ganz out. Längst sei die Champions League das eigentliche Labor des Fussballs, heisst es oft.

Das ist einerseits logisch, weil Nationalteams ja nur ein paar Wochen zusammen sind. Andererseits sei auch hier eine Frage erlaubt: na und?

Ein Manifest für die urwüchsige Kraft des Fussballs

Man kann über den Gastgeber denken, was man will – die meisten, die hier sind, denken inzwischen besser über Russland, jedenfalls über seine Menschen –, aber bei den Spielen hat man schon seit vielen Weltturnieren nicht mehr eine so gute Zeit gehabt: Sie sind voller Wendungen und Überraschungen – spätestens wenn auch jene müde werden, die zehn, zwölf oder wie viele Kilometer auch immer laufen.

Nie zuvor fielen so viele späte Tore, und nicht immer lassen sie sich als Ergebnis irgendeines besonders gewieften Matchplans erklären. Öfter erwachsen sie einfach nur der Dynamik einer bestimmen Partie, dem Zusammenspiel so vieler Faktoren, dass sie niemand ganz unter Kontrolle bekommt.

 Es ist ein schlechtes Turnier für Fussballerklärer – und eine wunderbare WM. Ein Manifest für die urwüchsige Kraft des Fussballs.

Eines der vielen späten Tore: Toni Kroos (links, Nummer 8) erzielt das 2:1 gegen Schweden in der 95. Minute. Trotz dieses Sieges scheidet Weltmeister Deutschland in der Gruppenphase aus.

Vielleicht zeigt sich diese in Russland so stark, weil dem Fussball ein Zyklenwechsel bevorsteht. Auf individueller Ebene schicken sich Neymar oder Kylian Mbappé an, die Weltfussballer der letzten zehn Jahre, Lionel Messi und Cristiano Ronaldo, abzulösen. Diese sind ebenso bereits ausgeschieden wie die stärksten Teams der jüngeren Vergangenheit.

Deutschland, weil es keine Ambition und keine Idee hatte, wie so mancher Titelverteidiger zuvor – auch wenn der Untergang gegen ein zuvor punktloses Südkorea natürlich besonders spektakulär war. Argentinien, weil es Messis Schweigen immer schlechter dechiffriert und dessen Mitspieler nicht jünger werden. Spanien, weil es in der Abwehr zu unkonzentriert war.

Zwei grosse Namen scheiden aus: Cristiano Ronaldo (links) scheitert mit Portugal an Uruguay, Lionel Messi (rechts) mit Argentinien an Frankreich.

Auch hier funktioniert die vermeintlich naheliegende Systemerklärung nämlich nicht. Das Tiki-Taka war nicht schuld. Im Verlauf seines WM-Siegs 2010 erzielte Spanien in sieben Spielen nur ein Tor mehr (acht) als jetzt in vier Spielen (sieben). Aber es kassierte bloss zwei Gegentore. Heuer waren es sechs, mehr als die Hälfte nach «unforced errors»: eklatanten individuellen Fehlern, denen keine spielstrategisch herbeigeführte Drucksituation vorausging.

Ein bunter Karneval

Diese WM ist bislang eine Niederlage für alle Planer, Optimierer und Wahrscheinlichkeitsfanatiker. Daran ändert auch der pseudowissenschaftliche Triumph des Gareth Southgate nichts. Als erster englischer Trainer seit 22 Jahren hat er ein Elfmeterschiessen gewonnen, nachdem er schon aus biografischen Gründen – sein eigener Fehlschuss im EM-Halbfinale 1996 – das Penaltytrauma in Simulationen und Studien so offensiv thematisieren liess wie kein Amtsvorgänger.

Eine 22 Jahre alte Last fällt ab: Gareth Southgate war als Spieler im Elfmeterschiessen in England gescheitert, in Russland setzt sich das Mutterland des Fussballs unter seiner Führung in der Kurzentscheidung durch.

Sein Programm entfaltete eine Art Voodoo-Zauber. Die Spieler glaubten an die Heilung, weil er sie beschwörte, daran zu glauben. Ihren Ausgang nahm die Kurzentscheidung eher klassisch: als der vierte Schuss der Kolumbianer von der Latte um einen Zentimeter vor und nicht hinter der Linie prallte. Doch als Bluff gegen die eigenen Spieler war Southgates Manöver mindestens originell – wahrscheinlich liess sich wirklich nur so die Erlösung herbeiführen.

Insgesamt war gerade das Achtelfinale ein bunter Karneval der verschiedenen Register, die den Fussball so einzigartig machen. Es gab die wilde Brillanz zwischen Frankreich und Argentinien und die aufopferungsvolle Leidenschaft von Uruguayern und Portugiesen. Den Aussenseitertriumph Russlands mit minimalsten Mitteln, die Geschichte über Scheitern und Erlösung des Kroaten Luka Modric binnen weniger Minuten.

Und die auf dem Papier unattraktivste Affiche war letztlich die wohl beste: das Comeback der Belgier gegen hinreissende Japaner mit fünf Toren binnen einer Halbzeit. Hier wie überhaupt bei dieser WM gab es nur eine Gewissheit: dass es keine Gewissheiten gibt.

Die Schweizer am falschen Turnier

Das musste auch die Schweiz erfahren. Gegen Schweden ging sie erstmals als vermeintlicher Favorit in ein Achtelfinale, die Mannschaft selbst sah sich gegen das fein organisierte schwedische Kollektiv wohl im Vorteil – aber sie hatte das falsche Turnier erwischt. Favoriten lebten nie so gefährlich wie in Russland.

Die WM in Russland ist kein gutes Pflaster für vermeintliche Favoriten: Die Schweiz scheitert im Achtelfinal an Schweden, das man im eigenen Lager als schwächer eingestuft hatte.

Diese WM ist die Rückforderung eines Fussballs, in dem jeder gegen jeden eine Chance hat – und damit das Gegenteil des um den Wesenskern des sportlichen Wettbewerbs beraubten Klubfussballs. In diesem triumphieren national wie international Jahr für Jahr die gleichen und die Planer und Optimierer werden wieder das Kommando übernehmen mit ihren Trainingsdrohnen, GPS-Westen und Statistikkolonnen.

Wenn ab Herbst also wieder das Vorhersehbare und Erklärbare regiert, bleiben immerhin die Erinnerungen. An ein Turnier, an dem der Fussball seine Mysterien verteidigte, an einen wunderbaren russischen Sommer der Anarchie.

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