Zusammenstehen mit Lionel Messi

Lionel Messi kündigt den Kontakt zu den Medien. Die Hintergründe zu diesem aussergewöhnlichen Schritt, den der Captain der argentinischen Nationalmannschaft wählte.

Football Soccer - Argentina v Colombia - 2018 World Cup Qualifiers - Del Bicentenario Stadium, San Juan, Argentina - 15/11/16. Argentina's players embrace teammate Lucas Pratto after he scored their second goal. REUTERS/Enrique Marcarian

(Bild: Reuters/ENRIQUE MARCARIAN)

Lionel Messi kündigt den Kontakt zu den Medien. Die Hintergründe zu diesem aussergewöhnlichen Schritt, den der Captain der argentinischen Nationalmannschaft wählte.

«El Pocho» wird Ezequiel Lavezzi gerufen, seit der 31-Jährige als Fussballer reüssiert. Ein Beiname ohne spezielle Bedeutung. Ganz im Gegensatz zum neuen Pseudonym, über das sich jetzt viele Landsleute amüsieren: «El Porro». Der Joint.

Argentiniens Nationalspieler finden die leichte Abwandelung weniger lustig. Deshalb haben sie sich nach dem WM-Qualifikationsspiel gegen Kolumbien am Dienstagabend in San Juan geschlossen in einem kleinen Pressesaal aufgestellt, um ihrem Kapitän und Anführer zu sekundieren. Lionel Messi liess sich das Mikrofon geben und erklärte, die Mannschaft werde fortan keine Auskunft mehr geben gegenüber den Reportern. Silenzio stampa. 

«Man wird uns weiter killen, aber wir werden kein Teil mehr davon sein», sagte der fünffache Weltfussballer. «Wir hören viele Beschuldigungen und Respektlosigkeiten und haben nie etwas gesagt.» Aber jetzt sei eine Grenze überschritten worden. «Die Vorwürfe gegen den Pocho sind sehr schwerwiegend.»

Androhung rechtlicher Schritte

Der bekannte Radiojournalist Gabriel Anello hatte Lavezzi zuvor in mehreren Tweets unterstellt, im Teamquartier zu kiffen. Der Spieler kündigte daraufhin über dasselbe Medium rechtliche Schritte gegen die «falschen Behauptungen» an. Abseits der Gerichte brachte der Vorfall für ihn und die Mannschaft ein Fass zum Überlaufen, das sich seit Jahren stetig gefüllt hatte.

Wie Trainer Edgardo Bauza bestätigte, hatten die Spieler ohnehin über einen solchen Boykott nachgedacht. «Hinter uns liegen zwei Wochen mit Aggressionen jenseits des Fussballs oder der Frage, wie das Spiel war. Die Spieler haben das (Embargo) besprochen, und ich unterstützte die Entscheidung. Wir haben verabredet, dass künftig nur noch ich Auskunft geben werde.»

Wo selbst Bauza («Ich werde in Stücke gerissen») nach einem souveränen 3:0 zuvor aus einer gewissen Position der Stärke sprach, galt das erst recht für Messi, der zumindest ein fussballerisches Versöhnungsangebot nach dem 0:3 in Brasilien vorige Woche abgab und Argentinien wieder auf den Playoff-Platz in der schwierigen Südamerika-Qualifikation beförderte.



Football Soccer - Argentina v Colombia - 2018 World Cup Qualifiers - Del Bicentenario Stadium, San Juan, Argentina - 15/11/16. Argentina's Lionel Messi celebrates after he scored a goal. REUTERS/Enrique Marcarian TPX IMAGES OF THE DAY

Lionel Messis Jubel nach seinem Tor gegen Kolumbien. (Bild: Reuters/ANDRES STAPFF)

In einem von der ersten Minute an brillanten Auftritt erzielte Messi das 1:0 mit einem herrlichen Freistoss, den er selbst herausgeholt hatte. Er servierte nach typischem Solo auf halbrechts das 2:0 von Lucas Pratto und nach energischem Pressing auch das 3:0 von Ángel Di María. Er war der «Allmächtige», schrieb die Sportzeitung «olé», wie man in aus Barcelona kennt.

Messi: mehr Europäer als Gaucho?

In der Nationalelf gelingen ihm solche Vintage-Darbietungen seltener. Und in der Tat, was hat insbesondere er sich in den letzten Jahren nicht alles anhören müssen in einem Land, das den Fussball verehrt, aber noch mehr die Aufopferung, das Diego Maradonas Meisterstück der Schummelei («Hand Gottes») im WM-Viertelfinale 1986 gegen England auf einer Höhe mit seinem Jahrhundertsolo aus demselben Match ansiedelt, wenn nicht darüber.

Maradona sei ein richtiger Leader gewesen, der in Barcelona ausgebildete Messi hingegen ein fremder und fremdelnder Zugereister, mehr Europäer als Gaucho, lautete über Jahre eine beliebte Storyline. Ihm liege die Nationalelf nicht am Herzen, mehr noch: Er ziehe sie runter mit seiner apathischen Ausstrahlung – so beileibe nicht nur Randmedien nach den verlorenen Finals der WM 2014 und den Südamerikameisterschaften 2015 und 2016. Nach Letzterem hatten sie ihn dann wirklich so weit wund geschossen, dass er seinen Rücktritt erklärte.

Als Symbolfigur aller Kumpeltypen gilt Lavezzi, als lebenslustiger Spassvogel.

Das tat allen dann furchtbar leid, denn natürlich ahnt jeder, der halbwegs bei Fussball-Verstand ist, dass ein Argentinien ohne Messi die Finals gar nicht erst erreichen würde. Und eigentlich kann jeder, der halbwegs hinschaut, auch erkennen, wie viel ihm die argentinische Nationalelf bedeutet. Sein leerer, unendlich trauriger Blick nach dem WM-Finale etwa, die wie auf dem Schafott entgegengenommene Auszeichnung zum Spieler des Turniers. Oder die Bereitwilligkeit, mit der er nach Länderspielen mit der Presse sprach. In Barcelona macht er das schon seit Jahren nicht mehr.

«Payaso de Messi», der «Clown Messis»

Auch auf Basis einer Herzschmerz-Kampagne im Land («Geh‘ nicht, Lio!») liess sich Messi im Sommer dann bekanntlich zum Rücktritt vom Rücktritt erweichen – und musste bald zusehen, wie seine Kritiker nur ihren Fokus verschoben. Sie rüttelten jetzt nicht mehr an der Notwendigkeit seiner Präsenz – zu offenkundig angesichts von zwölf Punkten aus fünf Qualifikationsspielen mit Messi und nur sieben aus sieben Spielen ohne ihn.

Sie verlegten sich immer mehr auf das vermeintliche Patronagesystem, das er installiert habe. «Amigos de Messi»: So werden abschätzig Spieler genannt, die nur wegen ihrer Freundschaft zu Argentiniens Wunderfussballer berufen würden.

Als Symbolfigur aller Kumpeltypen gilt Lavezzi, lebenslustiger Spassvogel, der es bei der WM 2014 zum Sexsymbol brachte (aber auch unter anderem ein sehr ordentliches Finale spielte). Inzwischen firmiert er bei vielen Medienleuten und Anhängern nur noch als «payaso de Messi», als «Clown Messis», wie es immer wieder heisst.

Das Debakel beim Erzrivalen: der unumstrittene Tiefpunkt

Tatsächlich mochte Lavezzis Berufung insbesondere für diesen Länderspieltag etwas überraschen – wegen eines Ellbogenbruchs ist er seit viereinhalb Monaten ohne Spielpraxis. Andererseits: Wird die fortgesetzte Pflege solcher Spieler anderswo – Lukas Podolski in Deutschland beispielsweise – nicht gern als geniales Teambuilding gefeiert?



Argentina's Lionel Messi, center, talks surrounded by the teammates after a 2018 Russia World Cup qualifying soccer match against Colombia in San Juan, Argentina, Wednesday, Nov. 16, 2016. Messi said players will not talk to press anymore because they consider that the press is being disrespectful. (AP Photo/Natacha Pisarenko)

Die letzten Worte Lionel Messis zu den Medien – ab jetzt herrscht Funkstille. (Bild: Keystone/NATACHA PISARENKO)

Wie immer im Fussball wohl eine Frage der Ergebnisse. Diejenigen von Argentinien waren zuletzt katastrophal: Remis in Venezuela, Remis in Peru, Heimniederlage gegen Paraguay – alles Teams ausserhalb der Qualifikationsränge. In Brasilien schmerzte dann zusätzlich die blamable Art und Weise des Untergangs.

Die spielerischen Probleme Argentiniens bei den Abwehrleuten und im zentralen Mittelfeld sind seit Jahren ebenso konstant wie die Paralyse im Nationaldress von Weltklassestürmern (und «Messi-Amigos») wie Sergio Agüero oder Gonzalo Higuaín. Das Debakel beim Erzrivalen spitzte alle Misslichkeiten jedoch auf einem unumstrittenen Tiefpunkt zu.

Ein Vater: Messi

War es auch ein Wendepunkt? Bauza opferte in San Juan schon mal Rechtsverteidiger Pablo Zabaleta – auch er, man ahnt es, gilt als Messi-Kumpel – und Higuain, der vom Anhang mit Pfiffen bedacht wurde. Und die Wolken, die sich bei einem Unwetter auf dem Hinflug so apokalyptisch zu verdichten schienen, dass Messi sich an Bord übergeben musste, entluden sich über den WM-Viertelfinalisten in einem erstaunlich problemlosen Sieg, der freilich nur einen Vater hatte: Messi.

Die Kritiker geben sich deshalb natürlich noch lange nicht geschlagen. Einer ihrer prominentesten, Fox-Reporter Martín Liberman, erklärte in einem von Messis Schwester María Sol begonnenen Twitter-Schlagabtausch die Urheberschaft an Messis Gala ungeniert mit seinen eigenen Breitseiten: «Dafür sind wir da. Um Augen zu öffnen. Um Alarm zu schlagen. Um sie aufzuwecken.»

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