Zwischen Zeit und Raum

Ein junger Fussballer beflügelt die Fantasie – eine Annäherung an das Spiel des Xherdan Shaqiri beim Sieg des FC Basel über Bayern München, seinen künftigen Club.

Immer dabei, Informationen zu sammeln. Der Ball am Fuss, der Blick zur Seite in den freien Raum, ... (Bild: Stefan Bohrer)

Ein junger Fussballer beflügelt die Fantasie – eine Annäherung an das Spiel des Xherdan Shaqiri beim Sieg des FC Basel über Bayern München, seinen künftigen Club.

Am Anfang stehen ein kleiner Mann und eine grosse Geste. Wenige Sekunden vor Anpfiff zeichnet die Fernsehkamera auf, wie ein einsamer Xherdan Shaqiri an der Mittellinie in sich geht. Sein Mund bewegt sich, die Hände hält er offen vor die Brust. Der gläubige Muslim spricht ein Du’a, ein Bittgebet. Gleich wird er mit dem FC Basel gegen seine zukünftigen Mannschaftskollegen aus München antreten, noch dazu im ersten Champions-League-Achtelfinal eines Schweizer Teams überhaupt.

Erst die Seele belebe den Körper, sagt Aristoteles. Ohne sie ist der Körper nur potenzielles Leben, blosse Materie. Was für den Philosophen die Seele, ist für Shaqiris Spiel das runde Leder. Und im übertragenen Sinn hat der Fussball auch seiner Familie, 1991 aus dem früheren Jugoslawien in die Schweiz geflüchtet, ein besseres Leben ermöglicht. Aus einem ungeheizten Bauernhof zog sie in eine schmucke Eigentumswohnung, von Augst nach Kaiseraugst. Ein Aufstieg, wie er sich plastischer kaum erzählen liesse.

Anderthalb Minuten bis zum ersten Kontakt mit der Magie

Anstoss. Knapp anderthalb Minuten verstreichen, bis Shaqiri erstmals den Ball, dieses magische Ding, berührt. In der eigenen Hälfte fängt der einzige ­Rotblaue in Handschuhen und langen Ärmeln einen Pass von Bayern-Stürmer Mario Gomez ab. Shaqiri weiss, für sein Spiel braucht er Bälle. Viele Bälle. In den Startminuten fordert er sie mit unmissverständlicher Gestik. Kriegt der Spieler mit der Rückennummer 17 die Kugel nicht, verwirft er die Hände. Shaqiri ist geladen, hochmotiviert.

In der achten Minute fliegt ihm der Ball wieder zu, auf Flanke von Markus Steinhöfer. Shaqiri setzt zum Schuss an, das Stadion schreit auf, doch Boateng klärt auf Höhe des Elfmeterpunkts. Ein Shaqiri-Tor zum Auftakt, was wäre das für ein Beginn, was wäre das für eine Geschichte gewesen.

Umgekehrte Welt, keine drei Minuten später. Shaqiri will am eigenen Sechzehner Lahm düpieren. Stattdessen legt er dem gegnerischen Captain den Ball vor die Füsse, Lahm schickt Ribéry, dieser scheitert nur an einer Blitzreaktion Yann Sommers. Ein kapitaler Fehler von Shaqiri – was wäre das für ein Beginn gewesen!

Schön und komplex

An Shaqiris Spiel sei seine Begabung abzulesen, sagt ein Bewunderer. Es ist Georges Delnon, Direktor des Theaters Basel. Vielleicht, mutmasst Shaqiri selbst, sei er ja fürs Fussballspielen geboren. Auf die Frage, was zwischen ihm und dem Ball sei, antwortet er: Liebe. Sein Spiel ist von solcher Schönheit und Komplexität, dass es sich der Beschreibung verwehrt. Wie jede grosse Kunst, jede leidenschaftliche Liebe.

Der Un­ergründlichkeit des Spiels verdanke der Fussball seine Faszination, philosophierte Bernhard Heusler unlängst. Und nicht Transfergerüchten, nicht Millionenbeträgen. Kein Wunder, spricht der FCB-Präsident von Shaqiri in den höchsten Tönen.

Es folgt ein Corner für die Bayern. Shaqiri läuft in die Mitte vor dem Strafraum, um auf einen Basler Konter zu spekulieren. Auf dem Weg dorthin, von den Fernsehkameras nicht registriert, kreuzt er den Weg von Ribéry. Sie streifen sich, nein, sie rempeln sich an, eindeutig. Keiner von beiden zieht auch nur für einen Moment die Schulter zurück, keiner gibt klein bei. Robben, sonst nicht gerade für aufopferungsvolle Defensivarbeit bekannt, sprintet später dem davongehasteten Shaqiri nach und stellt ihn.

Frech und respektlos

Es sind Bayerns Starspieler, die Shaqiri in die Schranken weisen. Oder es zumindest versuchen. Das kennt Shaqiri nur zu gut, es passiert ihm immer wieder. Schon Thorsten Fink hat kaum eine Gelegenheit ausgelassen, mahnende Worte an ihn zu richten. Schützenhilfe in der Zähmung des Jungspundes bekam der Ex-Trainer nicht zuletzt von Alex Frei. Einen Status hat man sich schliesslich zu verdienen, auch eine bestimmte Spielweise. Frechheit steht für Respektlosigkeit. Und damit können arrivierte Grössen keines Fachs gut umgehen.

Aber Shaqiri bleibt unerschrocken. Er schaut zu niemandem auf, ausser zu seinem Vater und seinem Trainer. Auf Gespräche auf dem Spielfeld lässt sich Shaqiri so gut wie nie ein. Die Stirn in Falten, konzentriert er sich auf seine fussballerischen Aufgaben. Mit der stummen Wachsamkeit eines lernbegierigen Kindes.

Wird Shaqiri in München den Sprung in die Stammelf schaffen? Druck scheint der 20-Jährige jedenfalls keinen zu spüren, die Angst zu scheitern nicht zu kennen. Wieso sollte er auch? Einer, der die Juniorenstufen in Basel hinaufgestürmt ist, der mit 17 Jahren zur ersten Mannschaft stiess. Dessen Familie schon einmal alles verloren und neu angefangen hat. Die bewiesen hat, dass fast alles möglich ist. Dass ein Fussballzwerg aus der Schweiz zum grossen FC Bayern München wechseln kann. Shaqiri hat schon gewonnen. Alles, was kommt, ist Zugabe.

Ein Fussballer vom Pausenhof

Die Startviertelstunde ist vorbei, Shaqiri zirkelt mit seinem feinen linken Fuss eine wuchtige Flanke auf Aleksandar Dragovics Kopf. Neuer pariert, und der Ball prallt vom Pfosten zurück aufs Feld. Kurz darauf hämmert Alex Frei den Ball an die Latte. Shaqiri setzt nach, mit einem ersten Schuss von jenseits der Strafraumgrenze. Der Bayern-Goalie fängt den Ball problemlos.

Wie Rooney und Ronaldinho ist Shaqiri ein Strassenfussballer. Auf dem Pausenhof seiner Primarschule ist er gross geworden, auf kleinstem Raum hat er die Basis für seine Fähigkeiten gelegt. Sie gründen in der Freude am Fussball. Was wünscht sich ein kleiner Junge auch anderes, als Spass zu haben, kaum schrillt die Pausenklingel?

Etwas über eine halbe Stunde ist verstrichen, Shaqiri flankt von der linken Seite auf Fabian Freis Fuss, doch der Ball hat seinen eigenen Plan, kullert weg. Es bleibt die letzte nennenswerte Aktion Shaqiris in dieser ersten Halbzeit. 24 Pässe schlägt er in etwas über 45 Minuten, davon kommen 15 an. 6168 Meter legt er zurück und erreicht eine maximale Geschwindigkeit von 28,69 Kilometern pro Stunde. Dreimal zieht er seine Handschuhe aus, schnürt seine Kickschuhe straffer. Auf deren Leder gestickt sind die Namen seiner Geschwister Arianit, Erdin und Medina. Er hat ein grosses Herz, für seine Familie und den Fussball.

Und die Schweiz für ihn. Der Mann mit Wurzeln im Kosovo sieht sich als Beispiel einer gelungenen Integration. Erspielt hat er sie sich auf dem Fussballplatz. Zur Freude der Fans. Wie nur wenige Profis findet er Zuspruch in den Stadien des ganzen Landes.

Shaqiri spielen sehen – zu dieser ­Erfahrung gehört das Forschen um ­beschreibende Worte. Nicht nur die Medien sind erfindungsreich, wenn es um den Publikumsliebling geht. Seine körperliche Erscheinung beflügelt die ­Fantasie aller Zuschauer: Zauberzwerg und Panzerknacker, Kraftkugel oder Alpen-Messi. Dabei sind die 169 Zentimeter, die Shaqiri misst und die ihn ebenso klein wie sein grosses Idol Lionel Messi machen, lange nicht das Einzige, was ihn unter den 22 Spielern zu einem besonderen machen.

Honigmelonen im Stutzen

Noch eher, wie viel Muskelmaterial sich doch auf sein begrenztes Körpermass verteilt: In den ausgebeulten Stutzen scheinen Honigmelonen versteckt, sein Oberschenkel ist dicker als der von Roberto Carlos. Ganze 60 Zentimeter Umfang misst er, im Vergleich zum Brasilianer anderthalb mehr. Es ist erstaunlich, was er mit seiner an einen Kunstturner erinnernden Statur anzustellen weiss. Aus ihr ergibt sich sein Spiel.

Der Schwerpunkt liegt tief, die kurzen, massigen Beine, sein breiter Oberkörper – wie eine Schutzmauer legt er seine Gliedmassen bei Bedarf um den Ball. Dabei kommen ihm die Muskeln nie in die Quere, sind ihm stets treu zu Diensten. Geschmeidig wie Butter, explosiv wie Feuerwerk. Laut seinem ­Physiotherapeuten sind sie gar von einer nie gefühlten Qualität. Darum kann Shaqiri auch als Kraftprotz ein Fili­grantechniker sein, mit dem Ball gleichzeitig zärtlich und rabiat umgehen.

An plötzlich in die Länge schiessende Knochen musste sich Shaqiris Körper nie gewöhnen. Nur an die dicken Muskeln und Sehnen, die sich um sie legten. So konnte er jahrelang seine ­Koordination schulen, verschont von einer schlagartigen Verwandlung seiner physischen Konstitution. Mit ein Grund, weshalb ihm die meisten der sogenannten zweiten Bälle gehören. Sein Gleichgewichtssinn ist so ausgeprägt, dass er sich nach einem Zweikampf umgehend wieder im Raum zurechtfindet und den umherwirbelnden Ball zurückerobert.

Er dreht den Kopf im Sekundentakt

Shaqiri ist der vielleicht am besten informierte Spieler auf dem Platz. Ist er ohne Ball, dreht er im Sekundentakt den Kopf. Links, rechts. Links, rechts. Shaqiri beobachtet unablässig, wo sich seine Mitspieler und Gegner befinden, wie sie sich auf dem Feld bewegen. Hat er keine Sicht auf das Spiel, dann reckt er den Kopf eben so weit, bis dass er es sieht.

Zehn Minuten sind in der zweiten Halbzeit gespielt, Steinhöfer ist bereit zum Einwurf in der eigenen Hälfte. Shaqiri rennt auf ihn zu, die Zunge im Mundwinkel, ein kurzer Blick nach rechts. Noch während der Ball in der Luft ist, schaut Shaqiri nach links, er sieht, wie sich ihm Lahm von hinten nähert, Ribéry von vorne, Badstuber von rechts. Kaum hat Shaqiri den Ball am Fuss, macht er eine Körpertäuschung nach links, wieder ein kurzer Blick nach rechts, er tritt an und passt auf Dragovic. Es ist alles andere als eine matchentscheidende Szene, aber sie zeigt eindrücklich, wie Shaqiri aus der scheinbaren Ausweglosigkeit herausfindet. Mit der Eleganz und Souveränität eines weissen Tigers – seines Lieblingstiers.

Shaqiri ist ein Meister darin, neue, von ihm antizipierte Möglichkeits­räume zu eröffnen. Er muss ein aus­geprägtes Gefühl, für Zeit und Raum haben. Ein Gefühl gespeist aus Information und Instinkt. Diese Spielintelligenz macht ihn als Fussballer aus, neben seinem besonderen Körperbau, seinem starken Kopf und seiner stupenden Technik. Es ist eine neuartige Weise, das Spiel zu lesen und zu verstehen: Shaqiri ist Teil einer neuen Generation Spieler, die Stunden vor der Playstation verbringen, um Fussball zu zocken. Die sich vor wichtigen Partien ihre schönsten Tore und spektakulärsten Aktionen auf YouTube anschauen. Reale Spiel­züge vermischen sich mit virtuellen; ­alles, was Shaqiri macht, hat er schon tausendmal visualisiert.

Wie eine Nähmaschinennadel

Es läuft die 56. Minute. Sie bringt Shaqiri in Reinform hervor, wie er leibt und lebt. Seine Läufe von rechts der Strafraumgrenze entlang in Richtung Zentrum sind so etwas wie ein Markenzeichen geworden und ein Grund für Vergleiche mit Spielern wie Robben. Shaqiri rennt am ersten Gegenspieler vorbei. Wie die Nähmaschinennadel über den Stoff flirren seine Beine über den Rasen. Die kurzen Schritte erlauben ihm schnelle Richtungswechsel, sie geben ihm eine grös­sere Bewegungsfreiheit im Dribbling als den meisten.

Shaqiri sucht die eine Lücke für ­seinen gefürchteten Schuss, rennt am zweiten und dritten Mann vorbei. Er ist in solchen Situationen kaum vom Ball zu trennen, ist eine vibrierende Ver­bindung mit ihm eingegangen. Shaqiri ist dann der Atomkern und der Ball das Elektron – eine Anziehung, die sich erst auflöst, wenn sein linker Fuss dem Elektron einen unnachahmlichen Energiestoss versetzt. Die Wucht des Schusses durchfährt seinen Körper so heftig, dass es auch sein Standbein in die Höhe katapultiert, wie ein Pendel schlägt es aus. Aber Alaba fängt den frei gewordenen Ball ab, und Shaqiri landet bäuchlings.

Kommt ein Ball auf Shaqiri zu, dann steuert er das Verhalten seiner Gegenspieler nicht selten mit einer Körpertäuschung, noch bevor der Ball ihn erreicht hat. Shaqiri tanzt im Raum, das ist die Poesie seines Spiels. Als wären sie Marionetten, schickt er die Gegenspieler in die Leere und geht mit dem Ball in die entgegengesetzte Richtung – oder läuft ganz einfach mit ihm mit, als führte er einen kleinen Hund aus.

Das Korsett des Gegners aufgeschnürt

Nicht selten sind Shaqiris Aktionen von einer ungeahnten Dringlichkeit, Einbrüche der Realität. Mit seiner Spielweise führt er Momente herbei, die das taktische Korsett des Gegners im Handumdrehen aufschnüren, das Mannschaftsgefüge durchbrechen und als fragiles Arrangement entblössen. Wie in der 76. Minute.

Shaqiri fängt im Mittelkreis einen Pass von Tymoshchuck ab. Er schaut um sich, nimmt sich Zeit, sehr viel Zeit. Über sechs Sekunden bleibt er an Ort und Stelle stehen, eine kleine Ewigkeit im modernen Fussball. Er wird bedrängt, macht einen Übersteiger, schaut wieder um sich. Marco Streller braust die linke Seite hinunter und erhält aus Shaqiris Fuss einen präzisen Pass in den Lauf. Streller zieht ab aufs Tor. Weil Shaqiris Spielwitz der starren Konvention trotzt und das produktive Moment der Überraschung nutzt, führt dieser immer wieder zu matchentscheidenden Szenen.

In der 80. Minute dehnt Shaqiri seine rechte Wade, kurze Zeit später wird er für Jacques Zoua ausgewechselt. Bis hierhin rennt er zusätzliche 4211 Meter, spielt 19 Pässe, wovon 14 ihr Ziel erreichen.

Schlusspfiff. Shaqiri läuft zurück aufs Spielfeld, in die Arme seiner Mannschaft. Der Daunenmantel, in den er ­hineingeschlüpft ist, reicht fast bis zum Boden, sein Trikot tauscht er nicht. Shaqiri hat nicht das Spiel seines Lebens gezeigt. Aber trotz allem einen ausgezeichneten Auftritt – das geht im Trubel um Valentin Stockers Tor zum 1:0-Sieg und die herausragenden Granit Xhaka und Yann Sommer etwas unter. In der Defensive hat Shaqiri wertvolle Arbeit verrichtet. Diszipliniert hat er mit seinem Stellungsspiel den Bayern Räume verschlossen, mit seiner schieren Präsenz die Entfaltung des gegnerischen Spiels empfindlich gestört.

Jung und abgeklärt

In der Offensive ging er weniger Risiko ein als sonst. Was er aber tat, das hat meist gesessen. Es war eine reife Leistung eines jungen Spielers. Wie gross muss die Versuchung gewesen sein, ­gerade gegen den zukünftigen Arbeitgeber gross aufzutrumpfen? Aber von jugendlichem Übermut keine Spur. Dafür von der Abgeklärtheit eines gestandenen Profis.

Die grosse fussballerische Geste mag ausgeblieben sein gegen die Bayern. Aber an diesem Abend zeichnet sich sein Weg ab. Es ist der Weg vom überaus talentierten Strassenkicker zum modernen Fussballer von Welt­format. Es sind nur noch kleine Schritte, die ihn davon trennen. Einen nächsten wird er am zweiten Dienstag im März setzen können, wenn es in München zum Rückspiel kommt.

Xherdan Shaqiris Bayern-Spiel in Zahlen

Zurückgelegte Distanz 10 379 m
Höchstgeschwindigkeit 28,69 km/h
Torschüsse Total 2
Schüsse aufs Tor 1
Geblockte Schüsse 1
Gespielte Pässe Total 43
Lange Pässe 4
Mittellange Pässe 27
Kurzpässe 12
Erfolgreiche Pässe 67 %
Dribblings 5
Begangene Fouls 0

Quelle: Uefa / vgl. Datenblatt auf der Rückseite des Artikels

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.03.12

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