Sandor Friederich ist im «Kompatibilitätsmodus», als ihn die TagesWoche im Tageshaus für Obdachlose an der Wallstrasse in Basel besucht, so drückt er es aus. Er hat das Wort im Duden nachgelesen, dort wird «kompatibel» definiert als «miteinander vereinbar» oder «zusammenpassend».
Sandor, oder Sany Friederich, wie er sich nennt, ist an diesem Morgen also kompatibel und fügt sich als Puzzleteil nahtlos in den von ihm erwarteten Kontext ein, das bigger picture: Interviewtermin mit der Presse. Friederich sagt: «Bringen wirs hinter uns.»
Gäste sorgen selber für Ordnung
Unser Anlass für den Besuch: Das Tageshaus für Obdachlose, ein Projekt der Stiftung Sucht, feiert am 23. Oktober sein 25-jähriges Bestehen. Seine Gründung fiel Anfang der 1990er-Jahre in die Zeit der verschärften Basler Drogenpolitik und einer folglichen Verdrängung der offenen Drogenszene in die Hinterhöfe spezieller Einrichtungen.
Heute ist das Haus drogenfrei. Wer im Hinterhof dealt, wird weggeschickt. Nicht von den Leitern des Hauses. Die Gäste selber wollen hier mit dem Stress auf der Gasse nichts zu tun haben und sorgen dafür, dass die Regeln befolgt werden. Der Ort soll eine Ruhezone sein, die Leiter stellen keine Fragen, niemand muss sich für seine Anwesenheit rechtfertigen. Und so hat sich hier eine stille Dynamik des Zeittotschlagens entwickelt.
Es ist ein spezieller Ort, diese Wallstrasse 16, unweit des De-Wette-Parks und des stolzen Hauptquartiers der Bank Sarasin. Auch von der historischen Schönheit der Elisabethenstrasse ist hier wenig zu spüren, stattdessen triste Architekturuniform. Vor dem Hauseingang stehen Männer und rauchen.
«Die Meinung über uns Obdachlose ist meistens die: Selber schuld. Diesen Leuten will ich zurufen: Das stimmt nicht!»
Friederich ist hier stiller Beobachter. Das Umherstehen, Rauchen und Biertrinken rund um den Hinterhof überlässt er den anderen. Denn Friederich hat es nicht so mit der sozialen Intervention. Er sei Autist, sagt er, und somit am liebsten alleine.
«Manchmal wünschte ich, ich könnte überhaupt nicht sprechen.» Dass er es an diesem Tag trotzdem tut, und das gleich mit der Presse, hat einen Grund: Er möchte ein Bild geraderücken.
«Die gesellschaftliche Meinung über uns Obdachlose ist meistens die: Selber schuld! Viele Leute glauben, dass man sich schon sehr anstrengen muss, um durch die engen Maschen der sozialstaatlichen Netzwerke zu fallen und auf der Strasse zu landen. Diesen Leuten will ich zurufen: Das stimmt nicht! Es kann manchmal verdammt schnell gehen, bis einem der Boden unter den Füssen weggezogen wird.»
Bei Friederich gerät der Boden früh ins Wanken. Mit zwölf Jahren wird er wegen Verhaltensauffälligkeiten in die psychiatrische Abteilung des Kinderspitals eingewiesen, nach 22 Monaten darf er wieder gehen. Diagnose: Autismus. «Ich hatte jede Alltagsroutine verloren», sagt Friederich, an eine Rückkehr in meine alte Schule war nicht zu denken.» Also wurde er in eine Schule für Schwererziehbare eingewiesen. Was hat er dort gelernt?
«Nichts. Der Lehrer sass vorne, im Klassenzimmer tat jeder, was ihm passte.» Wenn Friederich über den entscheidenden Knick in seinem Leben nachdenkt, dann denkt er an diesen Moment seiner Jugend. Den erzwungenen Austritt aus der alten Schule, die Sonderbehandlung, den Sonderstatus, die Absonderung.
«Das hat mir das Leben versaut», sagt Friederich heute. Mit 19 macht er eine Lehre zum Kaminfeger. Mit 22 arbeitet er in einer Papierfabrik. Er verdient Geld, legt davon zu wenig zur Seite und gerät bald in eine Abwärtsspirale aus Steuerschulden. Drei, vier Jahre versucht er zu sparen und das Ruder herumzureissen. Aber bald bringen die Briefe nur noch Betreibungen. Er macht die Post nicht mehr auf.
Heute hat Friederich 41’000 Franken Schulden beim Staat. Seine IV-Rente beträgt 543 Franken im Monat, zuzüglich Ergänzungsleistungen. Mit Drogen hat Friederich nichts am Hut, sagt er, Alkohol geniesst er in Massen. Aber die Schulden haben ihn ruiniert, wie ein immer tiefer hängendes Damoklesschwert. Ökonomisch, gesundheitlich, und auch in sozialer Hinsicht.
«Ich bin teilweise selber Schuld an meinem Absturz, da gibt es keine Diskussion», sagt Friederich. «Ich hätte Hilfe gebraucht, aber die konnten mir meine Nächsten nicht geben. Als der Schuldenberg noch überschaubar war, wurde in der Familie mehr geschrieen als diskutiert.»
Friederich spricht ab und zu mit seiner älteren Schwester, über das Verhältnis zur Mutter will er nicht reden. Der Vater ist tot.
Heute sitzt Friederich jeden Tag im ersten Stock an der Wallstrasse 16. Hier liest er die Zeitung oder scannt das Internet. Er liest alles mögliche, Blogs, Wikipedia, sogar einen Instagram-Account hat er, den er aber kaum nutzt. Auch wenn er mit fast niemandem redet, ist Friederich beliebt, das sagen zumindest die Köche, und das sagt auch der Leiter des Tageshauses, Paul Rubin.
Und Friederich ist zu einem feinen Beobachter der Mechanismen in diesem Raum geworden.
Er findet zum Beispiel gut, dass das Essen, für viele die einzige warme Mahlzeit am Tag, drei Franken kostet. Zwischen 25 und 40 Teller gehen hier pro Tag über die Theke. «Das Essen kommt von der Tafel, man könnte das sicher auch gratis abgeben», sagt er, «aber wenn es nichts kostet, schwindet auch die Achtung und der Respekt.»
Das beobachtet er manchmal im Umgang mit dem offenen Kleiderschrank im Parterre. «Manche Gäste fragen bei den Mitarbeitern nach frischen Klamotten, weil sie die alten nicht waschen wollen. Das Waschen kostet zwei Franken, die Kleider gibts gratis, wenn man danach fragt.»
So sei die Dynamik eben. Für moralische Überlegungen fehlen hier manchmal die Nerven.
Friederich selber legt grossen Wert darauf, wie er angezogen ist. «Das ist das Letzte, was dir in dieser Situation Halt gibt. Dass du anständig angezogen bist, dass du nicht aussiehst wie ein Ausgestossener und sofort erkannt wirst.»
Im Erdgeschoss stehen zwei Waschmaschinen, Duschen gibt es auch. «Ich bin gottenfroh, dass es diese Infrastruktur gibt, ohne sie wäre für viele das Leben unerträglich», sagt er.
Zum Jubiläum ist im Tageshaus eine kleine Feier anberaumt. Der Vorsteher des Gesundheitsdepartements, Lukas Engelberger, wird da sein, ein Poetry-Slammer performt ein paar Texte. Sie werden dann im ersten Stock um den Billardtisch stehen, zwischen der offenen Küche und dem Fumoir, und den Reden lauschen.
Sandor Friederich wird irgendwo in der Ecke stehen und sich das alles ansehen. Er hofft, es dauert nicht zu lang, aber wenn sich der Regierungsvertreter ein Bild machen kann, dann ist der Tag schon geglückt, meint er. «An diese Adresse findet kaum jemand den Weg, wir sind hier meistens unter uns. Ein bisschen Sichtbarkeit alle 25 Jahre ist nicht schlecht.»