Das Wohnquartier frisst sich nach Volta Nord hoch

Das Lysbüchel soll zum Wohn- und Gewerbequartier werden. Noch ist unklar, wer dort einst wohnen soll. Doch schon fühlt sich das Gewerbe verdrängt. Gleichzeitig verpassen die Gewerbler andernorts offerierte Chancen.

Neben der Kehrichtverbrennungsanlage soll neuer Wohnraum entstehen: Die Städteplanung auf dem Lysbüchel-Areal scheidet die Geister. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Das Areal ganz im Norden des St.-Johann-Quartiers wirkt an diesem Samstagnachmittag wie ausgestorben. Der Betrieb des Altstoff-Verwerters Schmoll AG, der die Woche hindurch gut hörbar ist, ruht. Coop hat sein Verteilzentrum und das Weinlager verlassen. Und die Holzbuden, die sich entlang der nicht mehr genutzten Güterbahngleise zur Landesgrenze hochziehen, sind verrammelt. Einzig ein lautes Zischen aus dem monströsen Komplex der Kehrichtverbrennungsanlage im Westen stört die Ruhe.

Durch das 116’000 Quadratmeter grosse Gelände flanieren ein paar Menschen. Sie lassen sich im Rahmen des europäischen Denkmaltages von zwei Mitarbeitern des Basler Planungsamtes erklären, dass hier bald «ein neuer Stadtteil entsteht», wie es im Führungsprogramm hiess. Genauer: Ein neuer Teil des St.-Johann-Quartiers, das sich dank der in den Untergrund verbannten Stadtautobahn Nordtangente vom Bahnhof St. Johann her in den Norden ausbreiten kann.

Die Fakten und Zahlen, die an dieser Führung genannt werden, sind beeindruckend: Wo heute niemand wohnt, sollen Wohnungen für 1300 bis 1900 Menschen entstehen. Die Zahl der Arbeitsplätze soll von heute 500 auf 2000 bis 3000 anwachsen. Und das innert weniger Jahre: Im Juli hat die Regierung einen Bebauungsplan für dieses Areal beschlossen, das neu Volta Nord genannt wird. Seit einer Woche beugt sich die zuständige Grossratskommission über das Dossier, noch diesen Winter soll der Grosse Rat den Plan absegnen.

Städtebauliches Ei des Kolumbus?

«Verdichtung» lautet das Zauberwort. Im Süden soll neuer Wohnraum entstehen, im Norden eine Zone für lautes Gewerbe. Und dazwischen ein Riegel mit leiseren Gewerbe- und Dienstleistungsbetrieben.

Kantonsbaumeister Beat Aeberhard sprach an einer Medienkonferenz im Juli von einer «städtebaulichen Vision«, sein Chef, Bau- und Verkehrsdirektor Hans-Peter Wessels von einem «Gebot der reinen Vernunft, Volta Nord einer intensiveren Nutzung zuzuführen». Die SBB, die einen Grossteil des heute arg unternutzten Areals besitzen, freuen sich auf eine bauliche Wertschöpfung von über 300 Millionen Franken. Und die Stiftung Habitat, die sich ganz im Süden ein Stück Land gesichert hat, kann bereits mit einer städtebaulichen Vorstudie aufwarten.

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Das Ganze wirkt aufs erste Hinschauen wie eine Win-Win-Win-Situation: Die Stadt braucht und bekommt zusätzlichen Wohnraum, das Gewerbe neue Areale, die SBB müssen im Auftrag des Bundes ihre Grundstückprofite maximieren, die Stiftung Habitat will günstige Wohnungen bereitstellen.

Alles gut also? Keineswegs. Die Wirtschaftsverbände laufen Sturm gegen die Pläne des Kantons und der SBB. Allen voran der Gewerbeverband, der sich auf Facebook «stinksauer» gibt und in einer Medienmitteilung von einer «Piranha-Zone» schreibt.

Dass sich die heutigen Arealnutzer über die Pläne nicht freuen, ist nachvollziehbar. Die SBB lassen die finanziell günstigen Baurechts- und Mietverträge auslaufen. Die Betroffenen haben sich in der IG Lysbüchel zusammengeschlossen, um für ihren Verbleib zu kämpfen. Ohne Erfolg. Weil ihre Verträge auslaufen, wurden die Einsprachen gegen den Bebauungsplan als nicht berechtigt taxiert.

Für die Arealnutzer wird die Zeit knapp

Sprecher der IG Lysbüchel ist Jean-Marc Wallach, Geschäftsführer des Familienunternehmens Schmoll AG. Er will mit seiner Altstoffverwertungs-Firma auf dem Gelände bleiben. Dort wo sie heute steht, kann sie nicht bleiben. Auf den Plänen des Kantons ist der Platz als Wohngebiet vorgesehen. Deshalb hat Wallach mit den SBB Gespräche über einen neuen Standort im Norden aufgenommen, bei der Schlachthofstrasse, wo lautes und überhaupt emissionsreiches Gewerbe auch künftig möglich sein soll.

«Die SBB denken an ein modernes Industrie- und Gewerbehaus, das mehrere Firmen unter einem Dach vereinen soll», sagt Wallach. Und sie haben über die in Basel allgegenwärtige Planungs- und Beratungsgruppe Rapp AG eine Konzeptstudie entwickeln lassen, die Wallach als «sehr valabel» bezeichnet.

Trotzdem lösen diese Zukunftsaussichten bei Wallach Ängste und Bedenken aus. «Wir müssen unsere Standorte bis spätestens 2021 räumen, die Zeit ist also sehr knapp», sagt er. «Wenn sich ein Umzug in das neue Industrie- und Gewerbehaus nicht realisieren lässt, sieht es schlimm aus.» Als möglichen Stolperstein nennt Wallach die hohen Investitionskosten.

Hier könnte man noch lärmen

Warum aber wehrt sich der Gewerbeverband gegen eine potenzielle Vervier- bis Versechsfachung von Arbeitspätzen? «Ob sich diese Anzahl von Arbeitsplätzen bereitstellen lässt, muss sich erst zeigen», sagt Patrick Erny, Leiter Politik im Gewerbeverband. Gegen eine Verdichtung des Gewerbegebiets habe der Verband nichts einzuwenden. «Das Gebiet ist unbestrittenermassen unternutzt, wir haben aber aus raumplanerischer Sicht Bedenken», sagt er. Grösste Bedenken, wie sich aus den emotionalen Verlautbarungen des Verbands herauslesen lässt.

Erny verweist auf eine vom Verband in Auftrag gegebene Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz, die das Lysbüchel als jenes Areal ausscheidet, das sich für lautes und emissionsreiches Gewerbe am besten eignet. «Das Lysbüchel-Areal ist rundum von Industrie umgeben, hier kann noch Lärm gemacht werden, hier können noch grosse Lastwagen verkehren, ohne dass es zu Konflikten mit Anwohnern kommt», sagt Erny. Wenn nun Wohnungen gebaut würden, seien Konflikte programmiert. «Natürlich muss der Kanton neuen Wohnraum bereitstellen – aber nicht dort, wo lautes Gewerbe, das es nun einmal gibt, seinen Platz hat.»

Kantonsbaumeister Aeberhard ist überzeugt, dass «ein Stück gut funktionierendes St. Johann weitergebaut» werden kann.

Kantonsbaumeister Beat Aeberhard kann die Bedenken des Gewerbeverbands nicht nachvollziehen. «Die neue Industriezone im Norden wird durch lärmarme Nutzungen wie Büros oder sonstige Dienstleistungen von den empfindlichen Wohnnutzungen im Süden abgeschirmt», sagt er. Aeberhard ist überzeugt, dass «ein Stück gut funktionierendes St. Johann weitergebaut» werden kann.

Nutzungszonen auf dem Lysbüchel-Areal laut Bebauungsplan des Kantons: A Gewerbe/Industrie, B und C Leises Gewerbe/Dienstleistungen, D und F Wohnen, F Stiftung Habitat – Wohnen, G Wohnen/Schule, H Kultur/Gewerbe, I Naturschutz/Quartierpark.

Das Rezept zur Konfliktvermeidung präsentiert sich oberflächlich recht einfach und plausibel. Das Areal wurde vom Süden her in drei Zonen unterteilt: Im Süden, also anschliessend an das Neubaugebiet rund um den Vogesenplatz, soll eine Wohnzone mit einem neuen Schulhaus entstehen, im Norden eine Industrie- und Gewerbezone und dazwischen als Riegel eine Zone für Dienstleistungen und leises Gewerbe.

Diesen Plänen hat der Gewerbeverband ein alternatives Arealkonzept gegenübergestellt. Eines, das sich von dem des Kantons nicht gross unterscheidet. Auch dort soll ein Riegel, der mit «stilles Gewerbe» bezeichnet ist, das Wohngebiet im Süden vom lauten Gewerbe abschotten.

Die Schmoll AG muss neuen Wohnungen weichen.

Der grosse Unterschied ist, dass hier die Grenze viel weiter südlich verläuft, nämlich auf der Höhe des heutigen Parkhauses. Entsprechend könnten nur noch auf dem Areal der Stiftung Habitat neue Wohnungen gebaut werden. Dieses Areal befindet sich übrigens bereits heute in der Wohnzone 5a und ist entsprechend als neuer Wohnraum unbestritten.

Wo man dem Gewerbe Platz in Aussicht stellt, passiert erst einmal nichts.

Ist es also lediglich ein Jammern des Gewerbeverbands über einen drohenden Platzverlust? Aus dem Planungsamt sind Stimmen zu vernehmen, die eben das behaupten. Wo man dem Gewerbe neuen Platz in Aussicht stelle, passiere erst mal nichts, liess einer der Arealführer am Denkmaltag verlauten.

Er nannte als Beispiel den östlichen Teil auf dem Erlenmatt-Areal. Dort hätte man als Riegel gegen den Strassenlärm der Osttangente gerne Gewerbebetriebe angesiedelt. Weil sich aber lange Zeit nichts regte, sprang quasi als Retterin in der Not die Stiftung Habitat ein, die das Gebiet nun bebaut und den Wohnbauten damit mehr Ruhe beschert.

Als weiteres Beispiel erwähnte er die Werkarena an der Neudorfstrasse, dort wo früher die alternative Villa Rosenau stand. Lanciert wurde das Projekt des Gewerbehauses 2013. Es kam dann über Jahre nicht vom Fleck, weil sich lange kein Investor fand und sich zudem Mietinteressenten nur sehr spärlich meldeten.

Patrick Erny weist den Vorwurf des jammernden Verbands von sich. «Hier geht es um Platz für emissionsreiches Gewerbe, das es halt auch noch gibt», sagt er. Er gesteht aber ein, dass das Projekt der Werkarena Anlaufschwierigkeiten hatte (zur Erlenmatt konnte er auf die Schnelle nicht Stellung nehmen). Diese seien nun aber überwunden. «Ende September ist Baubeginn», sagt er.

Wirklich als Wohnzone geeignet?

Ob der vom Kanton angedachte Riegel dereinst funktionieren wird oder nicht, darüber scheiden sich die Geister. Wie aber sieht es mit der heute bereits bestehenden Nachbarschaft aus? Da ist auf der einen Seite die riesige Kehrichtverbrennungsanlage mit ihren Hochkaminen und Abluftfiltern, die geräuschintensiv sein kann. Auf der anderen Seite steht das ästhetisch wenig erbauliche Silo der Chemiefirma Brenntag. Und in der weiteren Umgebung sorgen die Bell AG und der Schlachthof hin und wieder für Geruchsemissionen.

Kann man sich eine ungünstigere Umgebung für ein Wohngebiet vorstellen? Kantonsbaumeister Aeberhard ist überzeugt, dass ein «interessanter Mix» entstehen wird: «Das Areal hat einen urbanen Charakter», sagt er. Das bringe einerseits gewisse Herausforderungen mit sich. «Andererseits hat das Areal aber auch das Potenzial, ein eigenes Gepräge und eine spezifische Identität zu entwickeln.»

Wer dereinst auf dem Areal wohnen wird, kann Aeberhard noch nicht sagen. «Der Kanton und die Grundeigentümer streben eine durchmischte Bewohnerschaft an. Wohnraum im Hochpreissegment ist aufgrund der Lage nicht zu erwarten.»

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