Im Trinkglas kräuselt sich die Wasseroberfläche. «Da, spüren Sie es? Jetzt bebt es wieder!» Das ganze Büro von Stephan Thoma zittert, als fände ein kleines Erdbeben statt. Die Mitarbeiter seiner Druckerei haben Mühe, sich zu konzentrieren. «An anderen Tagen ist es sogar noch schlimmer», sagt Thoma. Dann vibriere es im Quartier – und zwar so, dass Gegenstände von Tischen fallen. Oder einmal sogar ein kleines Mädchen aus seinem Bett, wie Anwohner erzählen.
Die Ursache für das Beben sieht Thoma von seinem Bürofenster aus. Gegenüber baut die ETH Zürich ihr neues Zentrum für Biosystems Science (BSS). Gerade wird wieder eine sogenannte Spundwand in den Grund getrieben. Der Boden vibriert – im Umkreis von etwa 100 Metern, und sogar noch weiter weg.
Ein paar Meter weiter in der Friedensgasse kann die professionelle Bratschistin Monika Clemann ihr Instrument nicht stimmen. «Das Stimmgerät reagiert auf das Beben, die Anzeige flimmert nur noch», sagt Clemann. Auch beim Spielen störten die Erschütterungen. Vom Lärm gar nicht zu reden.
Bei sich zu Hause in der Maiengasse kann die Beraterin Maria Pneva keine Klienten mehr empfangen. «Wenn der schwarze Kran vis-à-vis loslegt, verstehe ich auf wenige Meter kein Wort mehr», sagt Pneva. Ausser Hörweite hat sie einen Arbeitsraum gemietet. Hierhin hat sie neben der Arbeit auch die gemeinsamen Mittagessen mit ihrem zwölfjährigen Sohn verschoben. «Die Baustellenpause ist schlicht zu kurz, um zu Hause in Ruhe zu essen», sagt Pneva.
Operationen mussten unterbrochen werden
In nächster Nähe zur ETH-Baustelle operieren auch die Chirurgen des Unispitals Basel (USB). Mehrere Male musste das Spital intervenieren und bei der ETH einen sofortigen Baustopp erwirken. Weil die Erde bis in die westlichen Operationssäle bebte, mussten mehrere mikrochirurgische Operationen unterbrochen werden. Das Mikroskop liess sich nicht mehr gebrauchen. «Der Effekt war vergleichbar mit einem Blick durch einen Feldstecher, wenn die Hand stark zittert», sagt USB-Sprecher Martin Jordan.
Die Vibrationen stören auch die Ärzte und Patienten der Frauenklinik, die nur einen Steinwurf vom Baugrund entfernt liegt. «Bei einem Kaiserschnitt lösten die Erschütterungen Stress bei Mutter und Neugeborenem aus, sodass wir die Bauarbeiten stoppen lassen mussten», sagt Sprecher Jordan. Insgesamt acht Mal intervenierte das Unispital. Trotz der Störungen habe keine Gefahr für Patienten bestanden.
Auch das Kinderspital (UKBB) – gleich neben der Baustelle – werde beträchtlich gestört. «Allerdings haben diese Vibrationen bisher zu keinen betriebsrelevanten Unterbrüchen geführt», schreibt UKBB-Sprecherin Deborah Wallrabenstein. Wie das USB habe das UKBB die Möglichkeit zu intervenieren.
Ärmer dran sind die Studenten im Pharmazentrum nebenan. «Ich verstehe kein Wort von dem, was der Dozent sagt», klagt Student Florian Christ. Wegen Vorlesungen wird die ETH ihre Bauarbeiten aber kaum unterbrechen.
Technische Hochschule kämpft mit der Technik
Schon seit Mitte Juli schüttelt die ETH ihre künftigen Nachbarn durch. Mit zwei Bohrgeräten rütteln die Bauarbeiter entlang der Schanzen- und der Klingelbergstrasse Bohle um Bohle in die Erde. Gleich zweimal stiess die ETH dabei auf Probleme. Weil Fachleute den Untergrund falsch einschätzten, lassen die Bohrer die Erde besonders heftig beben.
Das erste Mal passierte es gleich beim Einsetzen der ersten Bohlen, berichten die Anwohner. Auf eine Reklamation hin entschuldigte sich die ETH mit einem Schreiben und versprach Besserung. Sie wolle an der Bohrmethode pröbeln, um die Lärm-Emissionen zu verringern. Ausserdem gewährte sie den Anwohnern eine morgendliche Gnadenfrist: Sie verlegte den Vibrationsbeginn von 7 Uhr auf 7.30 Uhr.
Ein zweites Mal vergriff sich die ETH in der Bohrmethode: Am 12. September, als an der Schanzenstrasse kürzere Bohlen eingesetzt werden sollten, mussten die Arbeiten wieder unterbrochen werden – zu gross waren die Erschütterungen.
Die ETH habe den Baugrund punktuell untersucht und ein Baugrundgutachten erstellt, teilt die ETH-Sprecherin Claudia Naegeli mit. «Eine lückenlose Untersuchung des Baugrunds ist jedoch leider nie möglich, und ein Restrisiko bleibt immer bestehen.»
Auch wenn die ETH an ihren Bohrmethoden schraubte, habe sich die Lage für die Anwohner nur marginal verbessert, klagen diese. So heftige Erschütterungen wie im Juli seien zwar nicht mehr vorgekommen, die Beben seien aber noch immer kaum auszuhalten. Vor allem, weil sie immer häufiger vorkommen. «Im Juli rüttelte es nur vereinzelt, seit Mitte August vibriert es jeden Tag», sagt Anwohnerin Alexandra Schaub aus der Friedensgasse.
Mit dem Putz bröckelt die Geduld
Nicht nur die Nerven der Anwohner bröckeln – den Häusern in der Umgebung geht es genauso. In mehreren Liegenschaften entstanden neue Risse in den Wänden oder alte wurden grösser. Auf dem Dachboden von Alexandra Schaub lag der alte Sumpfkalkputz plötzlich auf dem Boden. In der Maiengasse, am Klingelberg und in der Friedensgasse befürchtet man ausserdem versteckte Schäden, die erst später zu sehen sein werden. Die Druckerei Thoma sorgt sich noch dazu um ihre hochsensiblen Geräte. «Wenn in zwei Monaten plötzlich Geräte ausfallen, lässt sich der Zusammenhang zu den Bohrungen nicht mehr herstellen», so Thoma.
Wer bezahlt die nötigen Untersuchungen und die Sanierung allfälliger Schäden? Diese Frage stellen sich die die Hausbesitzer und Unternehmungen rund um den ETH-Neubau. Die Bauherrin zeigt sich kulant: «Die ETH ist bereit, die Kosten zu übernehmen, wenn sie auf die Erschütterungen der Baustelle zurückzuführen sind», sagt Sprecherin Naegeli. Das nachzuweisen, wird nachträglich allerdings für die Hausbesitzer nicht einfach sein.
«Mit so heftigen Erschütterungen haben wir nie gerechnet. Sonst hätten wir reagiert.» – Alexandra Schaub
Neue Risse mit den Erschütterungen in Zusammenhang zu bringen, wäre deutlich einfacher mit einer vorgängigen Bestandsaufnahme. Auch darum habe sich die ETH gekümmert. «Bei Grundstückseigentümern, die sich mit der ETH Zürich in Verbindung gesetzt haben, wurden durch externe Spezialisten Rissprotokolle aufgenommen.» In einer Info-Veranstaltung habe die ETH sowohl auf die Vibrationen als auch auf dieses Angebot hingewiesen. «Damit macht es sich die ETH leicht», sagt Schaub. «Mit so heftigen Erschütterungen haben wir nie gerechnet. Sonst hätten wir reagiert.»
Die ETH unterstreicht, dass sie keine Grenzwerte überschreitet. Das würden die angebrachten Sensoren zeigen. Diese sollen an den anliegenden Gebäuden die Vibrationen messen. Doch auch wenn die Werte auf dem Papier noch in Ordnung gehen sollten: Sie reichen aus, um den Nachbarn den letzten Nerv zu rauben.