An einem späten Vormittag im Juli rollt der Verkehr ruhig durch die Spitalstrasse. Vorerst. Ein Taxi hält auf der rechten Strassenseite. Ein Velofahrer nähert sich, der Taxifahrer öffnet just in diesem Moment die Tür, und dann knallt es.
Der Velofahrer prallt mit seiner Schulter gegen die offene Autotür, stürzt in weitem Bogen auf die Strasse. Glücklicherweise steht er kurz darauf bereits wieder auf den Beinen. Der Taxifahrer entschuldigt sich, so gut er kann, und das Unfallopfer, das eigentlich fürchterliche Schmerzen haben müsste, bleibt überraschend gelassen.
Ein kurzes Gespräch, dann steigt der Gestürzte wieder auf sein Velo und fährt weiter. Die Polizei wird nicht aufgeboten, der Unfall entsprechend auch nicht protokolliert.
Dieses Beispiel vereint zwei typische Merkmale für Unfälle mit Velofahrern: Erstens gehört das unachtsame und somit folgenschwere Öffnen von Autotüren – die Statistiker sprechen von Parkierunfall – zu den häufigsten Ursachen von Velounfällen. Und zweitens taucht eine sehr hohe Anzahl von Velounfällen in der Statistik nicht auf, da diese nur polizeilich protokollierte Fälle ausweist.
Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) stellt aufgrund regelmässiger Befragungen Hochrechnungen der effektiven Velounfälle zusammen, unter anderem im Sinus-Report 2017 zu den Unfallzahlen von 2016. «Unsere Hochrechnung zeigt, dass nur rund jeder zehnte Unfall in der polizeilichen Statistik auftaucht. Wir kamen auf weit über 30’000 verletzte Radfahrer pro Jahr», sagt bfu-Mediensprecher Marc Kipfer auf Anfrage. Die offizielle Statistik des Bundesamts für Strassen (Astra) wies für dasselbe Jahr schweizweit lediglich 3300 Verletzte aus.
Nur jeder zehnte Unfall wird registriert
Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Darin finden sich viele Leichtverletzte. Aber bei Weitem nicht nur, wie Kipfer sagt: «Es kann durchaus sein, dass ein verunfallter Velofahrer im Spital behandelt werden muss, ohne dass er in der Unfallstatistik auftaucht.» Im Vergleich zur polizeilichen Statistik geht die bfu-Hochrechnung von doppelt so vielen schwerverletzten Velofahrern aus – also von 1900 statt 854 Unfallbeteiligten mit schweren Verletzungen.
Für unser Visualisierungen stützen wir uns auf die Zahlen aus der offiziellen Astra-Statistik. Für das Jahr 2017 führt diese in Basel-Stadt 147 Velo- und 33 E-Bike-Unfälle auf, wobei in vier Fällen beide Fahrzeugarten involviert waren. Dabei gab es einen Todesfall zu beklagen, 46 Schwer- sowie 110 Leichtverletzte und 19 Unfälle mit Sachschaden.
Versuche, die Unfallschwerpunkte zu entschärfen
Bernhard Frey Jäggi, Leiter Abteilung Verkehr bei der Kantonspolizei, und Daniel Bär vom Dienst für Verkehrssicherheit empfangen uns in einem Sitzungszimmer in der Polizeiwache Clara. Die Aussagen der beiden Beamten sind geprägt von grosser Offenheit, vom Willen, klar und ohne Beschönigung zu informieren.
In Zusammenarbeit mit dem Sachbearbeiter Daniel Bär sind die hier präsentierten Karten entstanden; alle registrierten Velounfälle aus den Jahren 2011 bis 2017 sind detailliert aufgelistet. Jeder einzelne kann auf der interaktiven Karte angeklickt werden.
Anhand der Daten können Unfallart und -schwere unterschieden werden, sowie in welchem Jahr, zu welcher Tageszeit oder an welchem Wochentag sie sich ereignet haben. So wird zum Beispiel ersichtlich, dass Parkierunfälle (also Kollisionen von Velofahrern mit parkierenden oder parkierten Autos) vor allem werktags auf den Ausfallstrassen registriert werden. Und dass keiner von ihnen tödlich endete. Fussgängerunfälle ereigneten sich indes vor allem auf der Innenstadtachse vom Barfüsser- zum Marktplatz. Im Jahr 2013 zwei davon mit Todesfolge.
Von 2011 bis 2017 wurden 903 Velounfälle mit Personenschaden auf dem Kantonsgebiet erfasst.
Mit den Unfalldaten der letzten drei Jahre haben die Basler Verkehrssicherheitsexperten vier aktuelle Unfallschwerpunkte für Velofahrer eruiert.
Bundesplatz
Hier kommt es häufig zu Einbiegeunfällen. Der Bundesplatz soll im Nachgang zur geplanten Umgestaltung des Wielandplatzes auf seine Verkehrssicherheit überprüft werden.
Reinacher- und Münchensteinerstrasse
Bei dieser Einmündung kam es ebenfalls zu Einbiegeunfällen. Im Winter 2017/18 wurde dort der Radstreifen rot eingefärbt. Die Wirksamkeit dieser Massnahme wird nun überprüft.
Spalentor
Hier konnten die Behörden keinen auffälligen Unfalltypus feststellen. Dasselbe gilt für den Wettsteinplatz. Die Behörden sehen an beiden Unfallstellen «keine Defizite an der Strasseninfrastruktur».
Sieben weitere, gefährliche Unfallstellen
Die TagesWoche hat auf Grundlage der Unfalldaten weitere Unfallschwerpunkte ermittelt (türkise Kreise). Roland Chrétien, Geschäftsführer von Pro Velo beider Basel, gibt sich auf Anfrage nicht überrascht von dieser Aufstellung: «Diese Stellen sind uns auch als problematisch bekannt», sagt er.
Vom Kunstmuseum zur Heuwaage
Die Situation beim Kunstmuseum soll nach dem Bau des Parkhauses verbessert werden. Die Elisabethenstrasse wurde in den letzten drei Jahren komplett umgestaltet. Wie sich die Veränderungen auf die Velounfälle auswirken, wird sich zeigen. Auch bei der Heuwaage wurde die Verkehrssicherheit verbessert. Ob erfolgreich, ist noch offen.
Bauarbeiten als Unfallursache
Die Unfälle beim Dorenbachkreisel führen die Experten auf diverse Bauarbeiten zurück. Beim Margarethenstich soll ein Umgestaltungsprojekt die Verkehrssicherheit verbessern. An der Schanzen- und Spitalstrasse (Bild) wird nach Abschluss der Bauarbeiten ebenfalls eine neue Verkehrsführung eingeführt. An der Kreuzung Klybeckstrasse/Dreirosenbrücke konnte hingegen kein Unfallgrund ermittelt werden.
Abgesehen von den genannten Schwerpunkten zählt Roland Chrétien, Geschäftsführer von Pro Velo beider Basel, alle mehrspurigen Strassen ohne Velostreifen (zum Beispiel die Ringstrassen), Strassen mit Tramgleisen und parkierten Autos, Kreisel mit mehr als einer Zufahrtsspur oder zu schmale Velostreifen neben parkierten Autos (zum Beispiel die St. Alban-Anlage) zu den gefährlichen Orten.
Unfallgefahr an Kaphaltestellen
Und dann sind da noch die Tram-Kaphaltestellen ohne Lichtinseln oder Umfahrungen für Velos. Diese werden im Zuge einer Umgestaltung zu behindertengerechten Haltestellen – mit der Erhöhung der Trottoirkanten – aber umso problematischer für Velofahrer.
«Ich verstehe nicht, warum diese Orte nicht genauer beobachtet und untersucht werden», sagt Chrétien. «Wir wünschten uns mehr proaktives Handeln zugunsten des Veloverkehrs. Auch wünschten wir uns mehr Mut und Willen zu innovativen Lösungen, die eventuell auch mal nicht der Norm oder den Gesetzen entsprechen.» Man komme wohl nicht darum herum, die Verbesserung der Sicherheit von Velofahrern mit politischen Vorstössen einzufordern.
Ansonsten bezeichnet Chrétien die Arbeit des Dienstes für Verkehrssicherheit der Kantonspolizei als «in Ordnung». «Wir haben gerade einen neuen Versuch zu periodischen Treffen unternommen», sagt er, «das erste davon verlief positiv.»
Auch die kantonalen Verantwortlichen für Verkehrssicherheit bezeichnen die Beziehung zu Pro Velo als gut. Und wollen trotz der Erkenntnis, dass Basel 2013 bei einem Städtevergleich des Astra als eine der sichersten Velostädte der Schweiz glänzen konnte, die Situation nicht beschönigen. Just nach 2013 kam es in der Statistik zu einem markanten Anstieg der Velounfälle. Der Grund dafür war eine Praxisänderung bei deren Erfassung.
Und es ist ihnen auch bewusst, dass die Dunkelziffer hoch ist: «Für unsere Arbeit wäre es natürlich von Vorteil, wenn wir mehr Unfalldaten zur Verfügung hätten», sagt Daniel Bär vom Dienst für Verkehrssicherheit.
Pro Velo hat selber eine dynamische Unfallkarte für die gesamte Schweiz aufgeschaltet. Diese heisst bikeable.ch und ist eine Internet-Meldeplattform für gute und schlechte Velo-Infrastrukturen, die 2017 von Studenten für die Region Zürich entwickelt und nun in Partnerschaft mit Pro Velo auf die ganze Schweiz ausgedehnt wurde.