Lernfreude statt Leistungsdruck: Kanton verbietet Experiment von Basler Lehrern

Bereits in den ersten Primarschulklassen und im Kindergarten erhalten Kinder Beurteilungen. Basler Lehrer halten das für kontraproduktiv.

Erstklässlerinnen und Erstklässler sollen weniger Lernkontrollen absolvieren, fanden die Lehrpersonen am Gotthelf-Schulhaus. Doch das Gesetz schreibt die Tests vor. (Bild: Michael Raaflaub)

Zwölf Primarlehrerinnen und -lehrer am Gotthelf-Schulhaus wollten nach den Sommerferien ein Experiment wagen: Schülerinnen und Schüler in der ersten Klasse sollten keine Lernberichte und Zeugnisse mit nach Hause bringen und sich damit dem steigenden Leistungsdruck entziehen.

Sie stellten als Erstes einen Antrag ans Erziehungsdepartement (ED). Darin forderten sie, auf die Beurteilungen zu verzichten, um den Erstklässlerinnen und Erstklässlern einen möglichst «freudvollen» und «motivierenden» Einstieg in die Schule zu ermöglichen.

Seit 2013 gibt es die Lernberichte bereits im Kindergarten und auf allen Primarschulstufen. Ebenfalls seit 2013 beinhalten die Zeugnisse ab Primarschule Beurteilungen nach vier Kategorien, von «hohe Anforderungen erreicht» bis «Grundanforderungen nicht erreicht». Vorher erhielten Schülerinnen und Schüler bis zur vierten Klasse keine solchen Beurteilungen. Die Eltern wurden einfach in einem Standortgespräch nach jedem Schuljahr über den Lernstand des Kindes informiert.

Auf eigene Faust durchgeführt

Den Antrag, auf Lernberichte und Zeugnisse zu verzichten, lehnte das ED kurzerhand ab. Die Schullaufbahnverordnung lasse keine solche Experimente zu. Man sei aber daran, die Verordnung zu überarbeiten, hiess es an der Leimenstrasse.

Keine Lernberichte, keine Zeugnisse: Für diesen Vorschlag gab es am Elternabend spontanen Applaus.

Die Lehrerinnen und Lehrer gaben sich mit der Antwort nicht zufrieden. Sie entschieden, ihr Experiment auf eigene Faust durchzuziehen. Also erklärten sie ihr Vorhaben am ersten Elternabend Ende August und fragten die Eltern, ob sie damit einverstanden wären, wenn ihre Kinder in der ersten Klasse keine Lernberichte und Zeugnisse mit den erwähnten Beurteilungen erhalten würden. An Eltern, die Berichte und Beurteilungen wünschten, würden sie weiterhin verteilt.

In drei Klassenzimmern habe es daraufhin spontan Applaus gegeben, weiss der Schulleiter Philip Kaeser. Er und seine Kollegen in der Schulleitung waren über das Experiment allerdings nicht informiert. Erst als das ED eine Woche nach dem Elternabend davon mitbekam, habe er davon erfahren, sagt Kaeser.

Ärger mit dem Erziehungsdepartement

Wohl hatten sich Eltern mit informellen Anfragen ans ED gewendet. Das ED reagierte darauf prompt – dieses Mal etwas schärfer. Was die Erstklass-Lehrpersonen da machten, sei gesetzeswidrig, schrieb die Volkschulleitung an die Schule. Laut Laufbahnverordnung müssten die Lernberichte und Zeugnisse zwingend ausgefüllt werden.

Kaeser musste das Experiment seiner Lehrkräfte stoppen. Er hat zwar für das Anliegen und die Haltung der Lehrpersonen Verständnis, das Vorgehen sei aber falsch: «Die Lehrerinnen und Lehrer dürfen sich nicht quasi eigenmächtig über die Laufbahnverordnung hinweg setzen – das ist klar. Aber ich teile die Einschätzung, dass die Lernberichte sich in dieser Form ungünstig auf Eltern und Schülerschaft auswirken können.»

Bei einer Befragung unter Lehrpersonen fiel die neue Laufbahnverordnung gnadenlos durch.

Wenn die Eltern die fünfseitigen Lernberichte zu Hause lesen würden, kämen häufig Fragen auf, die nur im Gespräch geklärt werden könnten. «So kommen Eltern häufig mit vorgefertigten Fragen zum Standortgespräch. Lehrpersonen und Eltern können nicht mehr offen in das Gespräch gehen», so Kaeser. Das sei nicht förderlich, um die Eltern bestmöglich bei der Entwicklung ihres Kindes zu unterstützen.

Auf das Positive fokussieren

Im Sommer führte die kantonale Schulkonferenz eine Befragung unter Lehrpersonen durch, was sie von der neuen Laufbahnverordnung hielten. Die Antworten waren vernichtend: 86 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass die neuen Vorgaben nicht die Lernprozesse der Kinder fördern.

Unter anderem deshalb will das ED die Verordnung «überprüfen», die der Regierungsrat 2012 erliess. Der Leiter der Basler Volksschulen, Dieter Baur, sagt: «Wir wollten die Laufbahnverordnung mindestens so lange laufen lassen, bis die ersten Schülerinnen und Schüler die Schulzeit nach neuem System durchlaufen haben. Somit können wir Erfahrungen damit sammeln, bevor wir allenfalls Grundlegendes daran verändern.» Nun arbeite eine Arbeitsgruppe daran, die kritisierten Punkte zu verändern. Die Änderungen werden frühestens im Schuljahr 2019/20 in Kraft treten.

Welche Änderungen geplant sind, will Baur nicht vorwegnehmen. «Die Arbeitsgruppe ist erst gerade gestartet, wir können noch nicht sagen, wie die Änderungen genau aussehen werden.»

Jean-Michel Héritier von der Freiwilligen Schulsynode fordert zum Beispiel, dass die Beurteilungen in den unteren Primarstufen nur noch wenige Fächer betreffen sollen. Lernberichte in den Kindergärten stellt er ganz in Frage.

Denkbar wäre auch, die Laufbahnverordnung enger an den Lehrplan 21 zu binden. So könnte sich Kaeser grundsätzlich vorstellen, dass Lehrpersonen sogenannte Kompetenzraster ausfüllen würden, die den Stand des Kompetenzerwerbs festhalten. Dieses Raster könnte stärker darauf fokussieren: Was kann das Kind und wie kann es weitere Ziele erreichen? Und weniger: Das kann das Kind noch nicht, die und die Punkte muss es noch lernen.

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