Der Abend beginnt mit einem guten Ratschlag:
«Wenn ich euch wäre, würde ich nicht da hinten kiffen gehen.»
«Äh, hatten wir auch nicht vor, aber warum denn nicht?»
«Da sind vorher haufenweise Cops in Vollmontur hingestürmt.»
«Ok, danke für den Tipp.»
Die Polizei wird ein paar Tage später den Einsatz bestätigen. Rund zwei Dutzend Jugendliche hätten sich auf den Gleisen aufgehalten und seien auf abgestellten Bahnwaggons herumgeklettert, erklärt der Polizeisprecher. Nach einer Personenkontrolle seien jedoch alle wieder entlassen worden.
Wir verabschieden uns von dem jungen Mann, der mit einer riesigen Giesskanne die Pflanzen auf der Terrasse beim Stellwerk gegenüber dem Bahnhof St. Johann wässert. Es gibt in Basel kaum charmantere Plätze als diesen schmalen Streifen entlang der Gleise, um einen Sommerabend in die Nacht zu verlängern.
Vergangenes Wochenende hat die «Grenzwert»-Crew hier das Restaurant Perron eröffnet. Ein folgerichtiger Schritt in der Entwicklung dieses äussersten Zipfels des St.-Johann-Quartiers. Und ein Vorbote dessen, was bald mit dem Lysbüchel-Areal passieren wird: Die Eigentümerin SBB will zusammen mit dem Kanton ein gemischtes Wohn- und Gewerbegebiet entwickeln. Die heutigen Nutzer, darunter Recyclingfirmen und viele Handwerker, müssen den Platz dafür räumen.
Wir lassen die helle Terrasse hinter uns und folgen den Gleisen in die Nacht. Die Kieselsteine knirschen unter unseren Füssen, es ist stockdunkel. Nur da und dort wird das Schwarz von Scheinwerfern zerschnitten, die von Bewegungssensoren aktiviert werden, wenn wir vorbeigehen.
Hindurch zwischen Bahnwaggons und zerbeulten Containern, die ineinander gestapelt sind wie Tupperware in einem zugestellten WG-Küchenschrank. Die Handytaschenlampe malt unsere Schatten gross auf den Boden und an kahle Betonwände. Jemand hat «Keta heute noch was?» auf eine Mulde voller Bauschutt geschrieben.
Haben die Handwerker ihre Werkstätten verriegelt und die Logistiker ihre Maschinen parkiert, wird das Lysbüchel zu einem unwirtlichen Ort. So dunkel, wie es Basel nirgendwo sonst noch ist. Ein wenig unheimlich und leer. Doch dazwischen haben sich kleine Oasen entwickelt. Diese Brache lebt, auch wenn das von aussen nicht so scheint.
Bedrohte Orte
Hier fühlt sich Basel nicht wie Basel an, wir könnten auch in Belgrad oder Berlin sein. Das Areal beherbergt Leerstellen, die von kreativen Menschen besetzt wurden. Es sind Orte, die durch Planungsszenarien von SBB und Kanton bedroht sind. Sie kommen auch nicht als eine dieser amtlich bewilligten Zwischennutzungen infrage, wie sie inzwischen zu jedem grossen Entwicklungsprojekt gehören. Dieser Sommer wird für viele Lysbüchel-Oasen der letzte sein.
Unter einer grossen Trauerweide stossen wir auf Überreste einer Party, in Einkaufswagen fein säuberlich nach Wertstoff getrennt. Das Mobiliar besteht aus alten Reifen und Frachtkisten, an einem dicken Ast hängt so etwas wie eine Discokugel.
Auf den Gleisen ein wenig weiter stehen Sofas und Stühle. In einer Metallschale flackert ein stattliches Feuer, aus einem Raum dröhnt laute Musik. Die Gäste dieser Feier scheinen schon eine Weile dort zu sitzen, die Zungen schwer vom Bier.
«Das ist unser Abschiedsfest, morgen müssen wir raus», sagt eine junge Frau in Latzhosen traurig. Sie habe hier mit Freunden eine Werkstatt gemietet, an Autos rumgeschraubt, jemand habe auch gegärtnert. «Inzwischen haben wir zwar Ersatz gefunden, aber so etwas gibt es in Basel kein zweites Mal. Wir hatten genügend Platz, konnten unser Ding machen und lärmen, ohne jemanden zu stören.»
Der Feiergemeinde gehen die Biervorräte aus. Wir überlassen sie ihrer Trauer und ihrem Durst. Zwischen den Schienen wächst struppiges Gebüsch, Scherben reflektieren das Licht des Feuers.
Einem zerzausten Herrn in ausgebeulten Jeans missfällt die Musik. Wir sind in einer Holzbaracke angelangt, in der eine jazzige Improvisiererei Fahrt aufnimmt, mit der er offensichtlich wenig anfangen kann. Mit zwei Päckchen Tabak in der Hand stampft er energisch durch das kleine Lokal und schimpft vor sich hin: «Ei wont Bluuus-Miusikch. Föcking Bluuus-Miusikch. Not dis Fasnachts-Schitt.»
Fliessende Grenzen
Seit über zwanzig Jahren finden hier wöchentliche Jamsessions statt. Das Bier ist günstig, die Musik laut und manchmal gut. Es geht nicht um schwindelerregende Gitarrensoli und Schlagzeugeinlagen, es spielen auch keine gebuchten Bands. Hier geht es um das Miteinander. Wer mag, greift sich ein Instrument oder ein Mikrofon und macht mit. Die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum ist fliessend, nicht nur aus Platzgründen.
Ein Ort, der wohl nirgendwo sonst seinen Platz finden würde. Manchmal knallvoll, oft aber auch von den Musikern abgesehen leer, lässt sich eine solche Bar wohl nicht als Geschäft betreiben. Sie ist ein Liebhaberding und der Liebhaber mag auch gar nicht gross drüber erzählen, wenns dann nachher in der Zeitung steht.
Geheimnisvoll sind auch die Technonächte in einem versteckten Club auf dem Areal. Unzählige abgestellte Velos und dumpf wummernde Bässe vereinfachen die Suche nach dem sagenumwobenen Ort.
Alles echt handgemacht
Nachdem wir uns am Eingang in eine Mitgliederliste eingetragen haben, schlängeln wir uns durch einen engen Gang und stehen in einem Club. Hier ist alles handgemacht und echt. Dieser Do-it-yourself-Stil wird in den Hauptstädten für viel Geld nachgebaut. Die Räume sind aus unzähligen Brettern von Hand gezimmert und charmant verschachtelt, die Wände liebevoll bemalt und dekoriert. Es gibt eine Bar, eine Freiluft-Tanzfläche, einen weiteren Floor im Inneren und ganz viele Nischen, in die man sich verkriechen kann. Ein Raum ist über und über mit kleinen und grossen Augen beklebt.
Auf der Tanzfläche wird es zunehmend eng, die Crowd ist von einer Glückseligkeit durchdrungen, die nur an guten Technopartys entsteht. Alle tanzen, jubeln, wenn der DJ den Bass hochschraubt, und strahlen mit geschlossenen Augen vor sich hin.
Geniessen, solange es noch geht. Die Tage sind gezählt, aber die Nacht ist jung.