Donnerstag, Feierabendverkehr, Menschen quetschen sich ins 14er-Tram. Polnisch und Ukrainisch, manchmal auch Französisch sprechende Menschen. Menschen, die vom Chaffeur ermahnt werden, die Türen freizugeben, und sich fragende Blicke zuwerfen. Mit den Händen umklammern sie wahlweise Schlafsack, Meditationsbank oder Selfiestick, die aneinandergepressten Körper wiegeln leise in den Kurven.
Vor der St. Jakobshalle erbricht sich das Tram. «Oh. Mein. Gott. Alter, endlich! Was ist hier eigentlich los?», sagt ein angequetschter Jugendlicher in Pelzkragen-Jacke zu seinem Kumpel.
Ein riesiges, aus den Fugen geratenes Pfadi-Lager
«Taizé» ist los. Es ist das 40. Europäische Jugendtreffen (28. Dezember bis 1. Januar) der Communauté de Taizé: Ein ökumenischer Männerorden, gegründet nach dem Zweiten Weltkrieg vom Schweizer Roger Schutz (Frère Roger) im gleichnamigen Dorf in Frankreich.
«Taizé», das sind rund 20’000 Christen im Alter von 18 bis 35 Jahren: Polen, Italiener, Spanier, Ukrainer, Deutsche, Weissrussen, die auf dem «Pilgerweg des Vertrauens» dieses Jahr nach Basel gekommen sind, um hier – ihrer Konfession gemäss – auf dem St. Jakob-Areal und in den Gastgemeinden ihrem Glauben zu frönen. Ihre Tage bestehen aus Gebeten und Workshops. Geschlafen wird bei freiwilligen Gastgebern im Dreiländereck, die während Wochen zusammengesucht wurden.
«Dies verlangt einen grossen Vorschuss an gegenseitigem Vertrauen und die Bereitschaft, sich auf fremde und unbekannte Menschen einzulassen», schreibt der Veranstalter. Eben: Pilgerweg des Vertrauens.
Vor der St. Jakobshalle wirkt «Taizé» eher wie ein riesiges, aus den Fugen geratenes Pfadi-Lager: Die Glasfassade ist gesäumt von Dutzenden Rucksäcken, Koffern, Luftmatratzen. Selbstgebastelte Schilder in fremden Sprachen werden in die Höhe gereckt. Ein Mann döst in seinem Schlafsack auf dem eiskalten Betonboden. Er bemerkt die Vorbeitrampelnden nicht, die vor und wieder zurückpendeln, um irgendwann unschlüssig stehenzubleiben.
Wohin nur? Ein freiwilliger Helfer weist zur Eishalle. Dort finde das Abendessen statt, sagt er.
Ein Abendessen im Parkhaus
«Der Wahnsinn», sagt die Fotografin und hält die Kamera über den Kopf. Auf dem Weg zur Arena gelangen wir an ein Mützenmeer: Eine meterdicke Warteschlange aus dicht gedrängten, hungrigen Christen tut sich vor uns auf. Manche singen, andere versuchen, sich durchs Gestrüpp vorbeizuschlängeln. Keine Securitys, nur einzelne Polizisten, die sich irgendwo am Rand in sicherer Distanz verstecken. Doch es beschwert sich ja sowieso keiner.
Nach stundenlangem Warten in der Kälte gibt es die Belohnung in Form eines in die Hände gedrückten Plastiksäckchens: Früchte, Joghurt, Brot, eine kalte Dose Linseneintopf und eine Schokoladenwaffel.
«Mehr braucht es doch nicht», antwortet die zierliche Novella freundlich auf den erstaunten Blick der Journalistin, die sich unter dem Abendessen etwas anderes vorgestellt hatte. Die 27-jährige Weissrussin ist nach Prag 2014 zum zweiten Mal am «Taizé»-Treffen dabei. In ihrer Gruppe gebe es aber auch solche, für die es bereits das siebte Mal sei. «Wir geniessen es, unseren Glauben an Gott mit anderen zu teilen», sagt die Katholikin. Kam ihr die Kirche nie verstaubt, überholt oder langweilig vor? «Nein, nein, nein», antwortet sie schnell. «In meiner Gemeinde gibt es viel Abwechslung. Es wird viel gesungen und viel unternommen. Da wird einem nicht langweilig.»
Novellas Eltern in Minsk haben nie geglaubt. Doch ihre kleine Schwester irgendwann schon. Dann sprang Gott auch auf Novella über. «Er gibt mir Halt und wärmt mich von innen», sagt sie und zieht weiter. Ein schöner Gedanke, denkt die Journalistin mit den gefrorenen Füssen.
Die Masse wird zum überirdischen Parkhaus gelotst. In Grüppchen sitzt man auf den leeren Parkfeldern und löffelt seine Linsen. Es hat den Charme eines naturkatastrophenbedingten Notlagers, aber mit guter Stimmung. Ob es allen hier wie Novella geht?
«Ich bin wegen meinem Freund hierhergekommen», erzählt die 20-jährige Luid aus Spanien. Er arbeite als freiwilliger Helfer mit. Natürlich gehe es ihr auch um Gott. «Aber ich habe noch andere Dinge im Leben, die mir wichtig sind.» Sie gehe auch nur ab und zu in die Kirche. Um zu glauben, brauche sie keinen steinernen Tempel. «Hier ist es natürlich schon anders, mit so vielen Menschen. Das ist speziell, aussergewöhnlich, und fühlt sich gut an.»
«Ich habe auch lange Zeit nichts mit Religion am Hut gehabt»
Eine Männergruppe auf Parkplatz-Suche entdeckt kurz darauf die Fotografin. «Hi! Könntest du ein Foto von uns schiessen?», fragt einer und wedelt vor der Kamera aufgeregt mit seiner ukrainischen Flagge. Das Foto muss warten, denn sein wild gestikulierender Kumpel Igor will es nicht dabei belassen, dass die Journalistin nicht an Gott glaubt. «Darf ich dir einen Ratschlag geben? Lies einfach mal ein bisschen in der Bibel. Ein paar Sätze, ein paar Seiten, einfach ein bisschen. Vielleicht tut das etwas mit dir?»
«Ich habe auch lange Zeit nichts mit Religion am Hut gehabt, weisst du?», fährt der 34-jährige Igor in gebrochenem Englisch fort. Bis 25 habe er getrunken, geraucht, Drogen genommen – was man halt alles so mache in dem Alter. Dann packte ihn die Neugier. «Für irgendwas musste dieses Buch, diese Bibel ja so berühmt sein, habe ich mir gedacht. Und danach könnte ich auch endlich einen Priester mal so richtig in die Mangel nehmen, haha!»
Es kam natürlich alles ganz anders. Gott sei beim Lesen in ihn gefahren. Igor schlägt mit der Faust in seine offene Hand: «Es hat einfach Puff! gemacht». Dass man auch ohne Gott zufrieden sein könne, will Igor, der seit Kurzem in Stockholm auf dem Bau arbeitet, nicht so wirklich glauben. «Mit Gott wirst du ein gewaltiges Glück erfahren, du wirst sehen! Und er gibt dir einen Grund, ein Ziel im Leben.»
Igor hebt seinen Finger und will ausführen, da zerrt ihn sein Kumpel vor die Fotografin. Schnell noch ein Foto, bevor sich Igor mit einem Fist-Pump verabschiedet. «Gib deiner Freundin einfach weiter, was ich dir gesagt habe, ja? Alles Gute!»
Durch die Kurz-Missionierung sind die Ukrainer in Verzug geraten, denn bei der St. Jakobshalle steht man bereits Schlange. Es steht das Abendgebet mit Bruder Alois, Prior des Männerordens, auf dem Programm. Menschentrauben schlängeln sich in die Halle, während die ersten Gesänge angestimmt werden. Kein christlich gewürzter Pop-Rock mit herumwedelnden Händen wie beim Praise Camp letztes Jahr in der Messehalle. Hier setzt man lieber auf Kirchengesang und besinnliche Einkehr.
Ein Dutzend Ordensbrüder sitzt von Scheinwerfern angeleuchtet mit dem Rücken zum Publikum vor der Bühne. Bruder Alois wird von kleinen Kindern verschiedenster ethnischer Herkunft umringt. Einheit in Vielfalt, soll wohl die Message sein.
Ungläubige Tramchaffeure
Als sich der Prior umdreht, blickt er in eine volle Halle. «Willkommen in Basel! Willkommen in dieser so gastfreundlichen Stadt!», liest er von einem Zettel und erntet Applaus. Er erzählt von seiner Reise in den Südsudan und in den Sudan im letzten Herbst. Von den Flüchtlingskindern, die ihn trotz aller Traumata «ganz selbstverständlich und mit grosser Freude aufgenommen haben». Eine Freude, wie sie der «grenzenlosen Liebe Gottes» entspringe. Wer darin einen Fluchtweg vor realen Problemen sehe, liege falsch: «Ganz im Gegenteil. Sie macht uns noch sensibler für die Not der anderen», schliesst Bruder Alois.
Wenige Minuten nach dem Gebet stehen die Menschen vor der Halle auf der Strasse und warten auf den Bus, weil es auf den Trottoirs keinen Platz mehr hat. 20’000 Menschen müssen jetzt nach Hause. Die 14er-Trams fahren im Minutentakt. Die Tramchaffeure wirken ungläubig bei der Einfahrt. Die jungen Gläubigen quetschen sich in ihre Trams hinein. BVB-Mitarbeiter ziehen Einzelne wieder hinaus: «Kein Platz mehr, sorry. Aber es kommt gleich wieder eines.»
«Taizé» endet an diesem Donnerstag, wie es begonnen hat: in einem Tram mit viel Polnisch, Ukrainisch und manchmal auch Französisch. Und mit der persönlichen Gewissheit, dass man nicht unbedingt mit Gott im Gespräch sein muss, um sich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen. Sondern vielleicht einfach nur mit seinen Mitmenschen selbst.