Das Areal der abgewanderten Textilfirma DMC in Mulhouse lässt die Herzen von Industrieromantikern höher schlagen. Reihenweise ungenutzte Fabrikgebäude aus den 30er-Jahren gespickt mit Schornsteinen – alles aus rotem Backstein. Mitten im Mulhouser Industrie-Chic sollte Basels Kultur mit einem postindustriellen Arbeitsraum ein neues Gravitationszentrum erhalten.
So lautete das Ziel, als sich das Hyperwerk 2013 in Mulhouse installierte. Das Institut für postindustrielles Design der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) gründete dafür einen eigenen Verein namens Motoco – kurz für More to come.
Tatsächlich hätten die Voraussetzungen nicht besser sein können: günstige brachliegende Flächen und bewilligungsfreudige Behörden. Die Basler Kulturexpansion ins Elsass schien gesichert. Heute, rund vier Jahre später, sind diese Pläne im Stillen gescheitert. Der Projektverein Motoco hat Konkurs gemacht und der Kunstbetrieb im Gebäude ist unter Mulhouser Verwaltung.
Wahnsinn im Paradies
Was ist passiert? Mischa Schaub ist der Gründer und ehemalige Leiter des Hyperwerks. Zudem war er der Initiator von Motoco. Ihm fällt schwer, einen ausschlaggebenden Fehler auszumachen. Er spricht von kaputtsanierter Atmosphäre, Baumängeln und kulturellen Unterschieden. «Das Projekt hatte paradiesische Qualitäten, doch hat es seinen Beteiligten auch viel Wagemut abverlangt.» Schaub war es gelungen, sowohl die Stadt Mulhouse als auch Kunstschaffende aus der Region von seinem Vorhaben zu überzeugen.
Die Künstler hätten mit einem Minimum an Infrastruktur auskommen müssen. Gerade das war Teil der paradiesischen Zustände. Für Schaub beflügelten die Entbehrungen die Kreativität, die er für seine Vision für nötig hielt. «Die Atmosphäre ging kaputt, als die Stadt ins Gebäude investierte, die Infrastrukturen verbesserte und das Gebäude baulich sicherte», ist Schaub überzeugt. «Danach war alles zu müde geworden, die Wildheit war weg.»
Er sei wohl zu naiv gewesen, findet er rückblickend: «Ich hätte das Provisorium schützen und den Umbau hinauszögern sollen. Doch stand die Drohung im Raum, dass die Feuerpolizei irgendwann interveniert.»
«Im Umgang mit den Behörden stiessen wir immer wieder auf kulturelle Differenzen», erzählt Schaub weiter. Die französischen Behörden würden langsamer agieren als jene in der Schweiz und hätten zum Teil ein anderes Verständnis von Zuverlässigkeit. «Auch wenn ich mit der französischen Sprache und Kultur gut vertraut bin, war der Kontakt zur Stadt immer wieder schwierig.»
Weiter erklärt Schaub, bei der Sanierung seien bauliche Fehler gemacht worden. So sei die neue Heizung stets auf Höchsttouren gelaufen und habe dadurch immense Kosten verursacht. Ausserdem seien andere Mängel, etwa bei der Wasserversorgung, nicht behoben worden: «Das verärgerte die Künstler, die irgendwann ihre Miete nicht mehr bezahlen wollten.» Auch ästhetisch sei der Umbau unbefriedigend ausgefallen, denn er habe den Hallen im Erdgeschoss den Charme geraubt.
Zu all diesen Bausteinen des Misserfolgs habe sich eine nachlässig geführte Administration gesellt. Irgendwann sei ihm klar geworden, dass sich der Konkurs nicht mehr verhindern lasse. Für Schaub wiegt das Scheitern des Projekts schwer. Einerseits weil er eine Herzensangelegenheit aufgeben musste. Andererseits weil er viel Geld investiert habe: «Insgesamt habe ich Maschinen im Wert von ungefähr 200’000 Franken in den Verein eingebracht». Das Werkstattinventar mit computergesteuerten Holz-, Metall- und Stein-Fräsen und gar einem Industrieroboter muss Schaub durch den Konkurs abschreiben.
Konzept und Umgang
Ein anderes Bild zeichnen seine ehemaligen Mitstreiter. Sie sehen die Probleme nicht primär in einer kaputtsanierten Atmosphäre, kulturellen Differenzen oder baulichen Fehlern. Stattdessen sprechen gleich mehrere Beteiligte von fehlendem Konzept, von Intransparenz und mangelhafter Vereinsführung.
Für Martine Zussy, Kulturschaffende im Auftrag der Stadt Mulhouse und gleich zu Beginn von Schaub ins Boot geholt, blieben stets viele Fragen offen. «Ich begriff irgendwann nicht mehr, wohin das Ganze führen soll. So zog ich mich wieder zurück.»
Nach dem Konkurs hat sie im Auftrag der Stadt Motoco neu gegründet und koordiniert das Projekt seither. Sie habe beobachtet, wie sich zwischen Schaub und den eingemieteten Künstlern langsam ein Graben auftat. «Mischa hat seinen eigenen Traum verfolgt, die Künstler aber nicht», so Zussy. Schaub habe das aber nicht wahrgenomen.
Es hätten Gespräche stattgefunden, die bisweilen sehr emotional geführt worden seien, erzählt einer der Mieter. Die Regionalentwickler der IBA-Basel nahmen daran als neutrale Partei teil. Auch, um für «eine professionelle Gesprächskultur» zu sorgen, so die zuständige Projektleiterin Paola Pfenninger, die Motoco ebenfalls von Anfang an begleitete.
Auch sie ortet Probleme im Konzept. Eine Gruppe innerhalb von Motoco habe sich im künstlerischen Bereich professionalisieren wollen. «Eine andere wollte mit Studenten und Schülern kooperieren und sah die Kunst nur als Mittel zum Zweck.»
Sie und ein Künstler, der anonym bleiben will, sprechen von mangelnder Transparenz. «Manche Mieter waren unzufrieden, weil nicht klar war, wie die Auswahl der teilnehmenden Künstler getroffen wurde», so Pfenninger. «Uns wurden nie konkrete Kriterien kommuniziert, nach denen die Mitglieder von Motoco ausgewählt wurden», sagt der Mieter. Auch über den Status einzelner Teilprojekte hätten die Künstler nie richtig Bescheid gewusst. «Es war immer wieder wie eine Blackbox – völlig intransparent», sagt der Mieter.
Schaub wehrt sich
Diesen Vorwurf lässt Schaub nicht gelten: «Motoco war stets transparent. Wir haben unsere Forschungsprojekte und Konzepte in Französisch und Englisch schriftlich verschickt, in Vorträgen erläutert, als Comics gestaltet und als Video ins Web gestellt.» Umgekehrt habe er den Diskurs über seine vielen Konzepte vermisst. «Es kamen kaum differenzierte Rückmeldungen.»
«Die Auswahl der Künstler lag in den Händen der Geschäftsführerin, was bei solchen Projekten nicht unüblich ist», sagt Schaub. Er habe hier bewusst keinen Einfluss genommen. Trotzdem sei auch hier alles transparent gewesen: «Ich wollte bewusst keine Künstlergemeinschaft aufbauen, sondern suchte den Mix eines postindustriellen Gesellschaftslabors. Das habe ich deutlich und immer so kommuniziert.»
« Schaub hat weder die schlechte Stimmung noch die finanziellen Probleme wahrgenommen.» – Martine Zussy, Projektkoordinatorin
Schaubs Ansicht, dass improvisierte Infrastrukturen eine kreative Atmosphäre förderten, teilten nicht alle. Laut Zussy hätten manche Mieter mehrmals den Wunsch nach einem Minimum an Infrastruktur geäussert: zum Beispiel fliessendes warmes Trinkwasser, Heizung und verriegelbare Türen.
«Der Ausbau der Infrastruktur hätte nicht ins Konzept eines leichten Provisoriums gepasst», sagt Schaub rückblickend. Genau diese Haltung habe die Mieter aber zunehmend verärgert, weil damit die aktuellen Bedürfnisse auf der Strecke blieben, entgegnet Zussy. «Irgendwann standen sie auf und sagten, so geht es nicht weiter.»
Die riesige Fläche war nicht nur Segen, sondern auch Fluch. So blieben die Hallen von etwa 500 Quadratmetern im Erdgeschoss grösstenteils unvermietet. «Mit den Mieteinkünften der restlichen Flächen mussten diese Hallen finanziert werden», so Pfenninger. Die Ateliermieten seien aber nicht von allen zuverlässig einbezahlt worden. «Die Vereinsstrukturen liessen eine Übersicht über die Einkünfte nicht zu, das war ein weiteres Problem von Motoco.»
Zussy kann Verständnis aufbringen für die mangelhafte Geschäftsführung. In ihren Augen hätten Initiatoren von gesellschaftlichen Projekten nicht immer die nötige wirtschaftliche Weitsicht für ihr Projekt. «Das war auch bei Mischa Schaub so. Ein Fehler war auch, dass er im Verein vieles im Alleingang machte und Aufgaben nicht delegierte.»
Schaub habe sich nicht genügend um das Operative gekümmert und sich keine Unterstützung geholt. «Er hat weder die schlechte Stimmung noch die finanziellen Probleme wahrgenommen. Da lag das Problem», fasst Zussy zusammen.
Neue Vision, neue Struktur
Auch wenn Mischa Schaub Schiffbruch erlitten hat, sein Vermächtnis in Mulhouse lebt weiter. Entsprechend dankbar ist man vor Ort. Die Beteiligten machen auffallend wortgleich deutlich, dass «ohne ihn die Hallen wohl noch immer leerstünden». Viele der Mieter sind auf dem DMC-Areal und in der Neuauflage des Vereins Motoco geblieben.
«Heute haben wir viel mehr Strukturen. Das schätze ich sehr. Mit dem Konkurs ging zwar eine Vision verloren, dafür entstand eine neue», so der Mieter. Seit rund einem Jahr arbeitet Martine Zussy als Leiterin an der neuen Vereinsstruktur: «Wir haben nun strengere Auswahlkriterien für Neuzugänge. Uns ist ein guter Mix innerhalb der Gemeinschaft wichtig.» Zurzeit fehle noch ein Keramik-Künstler und ein zweiter Siebdrucker.
Ein achtköpfiges Gremium bewerte nun die Bewerbungen, auf deren zwölf erhalte eine die Zusage. «Wir möchten die Qualität unter den Künstlern steigern. Das geht nicht, wenn Profis und Hobbykünstler am gleichen Ort arbeiten», sagt Zussy. Mittlerweile arbeiten rund 100 Kunstschaffende bei Motoco. «Wir begleiten sie eng und versuchen, sie mit Auftraggebern aus der Wirtschaft in Kontakt zu bringen.»
Zukunft ohne Basel
So hat sich Motoco unterdessen ein gewisses Renomee erarbeitet. Basel ist allerdings nicht mehr mit von der Partie. Abgesehen von einigen Basler Künstlern, die dort eingemietet sind, und der Teilnahme an der IBA-Basel bestehen aktuell keine Verbindungen mehr.
Auch nicht zum Hyperwerk, wie der neue Institutsleiter Matthias Böttger bestätigt. «Motoco hat stattgefunden, bevor ich ans Hyperwerk gekommen bin. Dementsprechend wenig Kenntnisse habe ich darüber», so Böttger. Von einer Basler Expansion nach Mulhouse kann also keine Rede mehr sein.
Dass die Bande zwischen Motoco und Basel künftig wieder enger werden, sei durchaus möglich, sagt Zussy. «Wir möchten es aber ruhiger angehen als zuvor und uns die nötige Zeit nehmen.» Lokale Projekte scheinen im Moment wichtiger. Aktuell findet im Erdgeschoss eine Kunsthandwerk-Ausstellung statt. Das bringt Geld in die Vereinskasse.
Und Schaub? Schaub arbeitet an einem neuen Projekt in einer neuen Disziplin. Nach seinem Misserfolg mit Motoco und der Werkstatt für feste Materialien verfolgt er mit seiner neuen Forschungsstiftung Virtual Valley neue Visionen, nämlich die Gestaltung von virtuellen Welten.