Basel lebt seit 200 Jahren mit einem Klumpenrisiko

Am Anfang gab es vier grosse «Chemische» in Basel: Ciba, Geigy, Sandoz und Roche. Nach zwei Megafusionen und einigen Umstrukturierungen sind es immer noch vier: Novartis, Roche, Syngenta und Clariant. So ging der Umbau vonstatten.

Vor der Fusion zur Novartis: Labor der Ciba-Geigy AG (1991). (Bild: Keystone)

Am Anfang gab es vier grosse «Chemische» in Basel: Ciba, Geigy, Sandoz und Roche. Nach zwei Megafusionen und einigen Umstrukturierungen sind es immer noch vier: Novartis, Roche, Syngenta und Clariant. So ging der Umbau vonstatten.

Wenn eine der beiden grossen Basler Pharmafirmen eine Veränderung bekannt gibt, im Management Speak «zwecks Fokussierung auf die Kernkompetenzen Sparten neu strukturiert» und dabei «zur Sicherung der unternehmerischen Flexibilität personelle Redimensionierungen» ins Auge fasst, setzt das gros­se Wehklagen ein. Der Ruin des Forschungsstandorts Basel scheint zu drohen, mindestens aber der Ausfall von Steuerfranken.

Gewiss ist ein Personalabbau von 500 Stellen nicht erfreulich. Gewiss kann man sich jedes Mal fragen, ob nun die Forschung an anderen Novartis-Standorten stattfinden und der Basler Campus künftig einmal zur Geisterstadt wird. Neu sind solche Schreckensszenarien nicht. Basel lebt seit zwei Jahrhunderten mit einem industriellen Klumpenrisiko.

Es begann mit der Seidenbandindustrie

Die Seidenbandindustrie beschäftigte ein Drittel der Bevölkerung im damals noch vereinten Kanton Basel, bevor sie neuen Techniken zum Opfer fiel – aber erst nachdem sie den Anstoss zur Entwicklung der Farbenindustrie gegeben hatte. Ciba, Geigy und Sandoz begannen im 19. Jahrhundert mit der Herstellung ­synthetischer Farben für die Textil­indu­strie, Hoffmann-La ­Roche lancierte gleich von Anfang an ein Gesundheitsprodukt: Hustensirup.

Um im Farbengeschäft wachsen zu können, wehrten sich die chemischen Betriebe jener Zeit übrigens vehement gegen jede Form von Patentschutz; sie verletzten nämlich die Patente fran­zösischer und deutscher Farbenhersteller ebenso eifrig wie heute asiatische Generika-Produzenten «unsere» Pharmapatente.

Ovomaltine und Knäckebrot

Dank dem Ersten Weltkrieg (die deutsche Konkurrenz war auf dem Farben-Weltmarkt blockiert) und dem euro­päischen Trümmerhaufen nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die Basler «Chemischen» stetig, zuweilen auch rasant, und weiteten ihr Geschäftsfeld kontinuierlich aus.

Die Sandoz etwa schnallte sich Wander an und verkaufte fortan Ovomaltine, bis sie die Sparte an Asso­ciated British Food verkaufte. Gerber ­Babynahrung gehörte zum Sortiment, bis die Abteilung an Nestlé verkauft wurde, auch Wasa-Knäckebrot war ­vorübergehend im Bauchladen. Die Ciba war stark in der Agrochemie. Und selbst Roche diversifizierte: in Duftstoffe (Givaudan), Agrochemie (Maag) und nicht rezeptpflichtige Medikamente (Sauter).

Die Chemie machte Basel reich

Wachstum durch Diversifikation in neue Branchen und neue Märkte – das war das unternehmerische Rezept bis weit in die 1970er-Jahre. Und es funktionierte: Dank der Chemie und den ihr zugewanderten zusätzlichen Sparten wurde die Region Basel zu einer der reichsten des Landes, und alle Bewohner profitierten davon.

Das Konzept der breit diversifi­zierten Gemischtwarenläden, in denen hochspezialisierte rezeptpflichtige Medikamente neben Massenware das Sortiment bestückten, geriet ausser Mode. Nicht, weil es nicht funktioniert hätte, aber es stiess an Grenzen. Das Wachstum verflachte, die Gewinnmargen wurden knapper. Nun war Fokussierung angesagt, Innovation, exklusive Produkte für den Weltmarkt. Das setzte verstärkte Forschung voraus, höhere Margen, mehr Geld und damit auch schiere Grösse.

In den 1970er-Jahren kippte es

Folgerichtig setzte zu Beginn der 1970er-Jahre eine Welle von Zusammenschlüssen, Übernahmen, daraus folgenden Strukturbereinigungen mit der Ausgliederung ganzer Sparten ein – ein Prozess, der im Grunde genommen bis heute anhält und wahrscheinlich gar nie ganz aufhören wird.

Den Anfang machte die Fusion von Ciba und Geigy im Jahre 1970. Auch damals wurden Befürchtungen laut, der Standort Basel gerate in Gefahr – zumal man davon ausging, dass die «Fusionitis» weitergehen würde, bis es nur noch eine «Chemische» gäbe, sozu­sagen die «Rosa Cigy».

Skandale häufen sich

Trotz aller Befürchtungen florierte die Chemie weiter. Zwei grosse Rückschläge gab es, die freilich nur indirekt mit dem normalen Geschäft zu tun hatten. 1976 trat im Werk der Roche-Tochter Icmesa im norditalienischen Seveso hochgiftiges Dioxin aus und richtete erhebliche Schäden an; später wurden Fässer mit vergiftetem Erdreich auf der Suche nach einem End­lager quer durch Europa transportiert, bis sie schliesslich in Basel als Sondermüll verbrannt werden konnten – bei der «Kollegialfirma» Ciba.

Zehn Jahre später traf es die San­doz: Am 1. November 1986 brach in einem Werk in Schweizerhalle ein Brand aus; Basel wurde aus dem Schlaf gerissen, weil man befürchtete, eine Giftwolke könnte sich über die Stadt ausbreiten. Für das Löschwasser gab es kein Auffangbecken, sodass die Brühe in den Rhein floss und dort Verheerungen anrichtete.

Unfälle schaden dem Ruf

Das Verhältnis der Basler zu «ihrer» Chemie wurde durch diese beiden Vorfälle auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Dennoch war man sich auch dann noch darüber im Klaren, dass die Stadt auf Gedeih und Verderb von der Branche abhängt.

Das zeigte sich noch zehn Jahre später im Umfeld der nächsten Grossfusion. Die Sandoz hatte nicht nur ­wegen «Schweizerhalle» ein Imageproblem; schon zuvor hatte das Unternehmen eine Gemeinkosten-Wert-Analyse ­vorgenommen, die im Volksmund «McKinsey-Übung» genannt wurde, 1800 Stellen kostete und den Ruf des Unternehmens und jenen seines Chefs, Marc Moret, erheblich beschädigte.

Vasella baute radikal um

Die Fusion mit Ciba-Geigy zur ­Novartis im Jahre 1996 wurde durch diese beiden Ereignisse gewiss er­leichtert, zumal die Sandoz damals nicht den allerdynamischsten Eindruck machte. Zusammen mit Ciba-Chef Alex Krauer setzte Marc Moret den Zusammenschluss zügig um.

Als Novartis-Chef wurde Daniel ­Vasella bestimmt. Und der führte sein Unternehmen konsequent in Richtung «fokussierte Diversifikation». Nicht mehr passende Sparten der beiden Unternehmen wurden kurz vor oder bald nach der Fusion verselbstständigt: Die Syngenta und die Clariant sind heute noch als selbstständige Unternehmen unterwegs und beschäftigen zusammen weltweit gegen 50’000 Personen. Die Ciba Spezialitätenchemie war bis 2008 selbstständig, mit 12’000 Beschäftigten, und wurde dann von BASF übernommen.

Durch eine Fusion von Roche und Novartis würde ein ­äusserst marktmächtiges Unternehmen entstehen.

Mittlerweile ist die Novartis ein Gesundheitskonzern, der neben selbst entwickelten Medikamenten auch ­Generika führt, die unter der Marke «Sandoz» vertrieben werden, und ­einige andere Produktgruppen von Health Food bis Augenheilkunde. «Fokussierte Diversifikation» nennt sie diese Strategie, weil die Novartis als global tätiges Unternehmen nur in ­solchen Bereichen tätig sein will, in denen sie weltweit auch eine führende Rolle spielen kann. Ist das nicht möglich, trennt sie sich von diesen Bereichen und verstärkt dafür andere, die mehr versprechen.

Novartis verhält sich in dieser Beziehung ganz ähnlich wie andere globale Unternehmen. Nestlé zum Beispiel beschäftigt sich weltweit nur mit Produktgruppen, in denen man die Nummer eins oder zwei sein kann.

Roche geht einen eigenen Weg

Einen anderen Weg ging Hoffmann-La Roche, die seit ihrer Gründung stets stärker auf Medikamente fokussiert war als die anderen «Chemischen». Seit den 1990er-Jahren hat sich diese Konzentration noch verstärkt. Mit der Beteiligung an der amerikanischen Genentech 1990 und deren vollständigen Übernahme im Jahre 2003 ist die Roche-Gruppe zum Spezialisten für ­rezeptpflichtige Me­dikamente mit Schwergewicht auf der Krebsbekämpfung geworden. Mehr noch: Zwei Drittel des Sortiments bestehen aus Produkten der Biotechnologie.

Durch eine Fusion von Roche und Novartis – ein «Projekt», das immer wieder im Raum steht – würde ein ­äusserst marktmächtiges Unternehmen entstehen. Doch daraus dürfte kaum etwas werden. Einerseits spricht die Eigentümerstruktur der Roche dagegen (50,1 Prozent der Stimmen sind in den Händen der Familien Hoffmann und Oeri). Anderseits haben sich die Strategien der beiden Unternehmen in den letzten 15 Jahren derart stark auseinanderentwickelt, dass eine Fusion wohl zum Kultur-Clash würde.

Nettes Sparschwein

Nicht, dass man den Zusammenschluss niemals versucht hätte. Die Novartis sitzt auf einem 30-Prozent-Aktienpaket der Roche, das ihr unter anderem auf dem Umweg über die «Pharma Vision» des Zürcher Financiers Martin Ebner zugeführt wurde. Bislang wurden jedoch alle Annäherungsversuche abgeschmettert.

Immerhin: Sollte Novartis daran denken, das Paket zu verkaufen, würde sie dadurch wohl zu liquiden Mitteln von 30 bis 40 Milliarden Franken kommen – ein ganz nettes Sparschwein, um die eigene fokussierte Diversifikation weiter voranzutreiben.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 31.01.14

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