Unruhe auf dem Novartis Campus

Nicht erst seit dem angekündigten Stellenabbau sind die Angestellten von Novartis in Basel nervös. Die grossen Investitionen fliessen woanders hin. Verliert die Novartis das Interesse am Standort Basel?

1996 entstand mit Novartis einer der grössten Pharmakonzerne der Welt. Nach der Ära Vasella befindet sich der Multi im Umbruch. (Bild: ERWIN ZBINDEN)

Nicht erst seit dem angekündigten Stellenabbau sind die Angestellten von Novartis in Basel nervös. Die grossen Investitionen fliessen woanders hin. Verliert die Novartis das Interesse am Standort Basel?

Ein wolkenloser Himmel, Lachsbrötchen und drei Prozent weniger Betriebsgewinn: Hoch über dem Novartis Campus präsentierte Konzernchef Joe Jimenez am vergangenen Mittwochmorgen die Unternehmenszahlen für das vergangene Jahr. Er lobte die Produkte-Pipeline und die Innovation in der Forschung.

Wie er das Jahr mit einem Wort beschreiben würde, wollte ein Journalist wissen. Ein Jahr des Wandels sei es gewesen, sagte ­Jimenez. Ein Jahr, in dem man Novartis für weiteres Wachstum positioniert habe. Und weiteres Wachstum sei nötig, will das Unternehmen seine Rolle als eines der weltweit führenden Pharma-Unternehmen beibehalten. Doch die Aussicht auf steil steigende Gewinne und Umsatzsteigerungen ist bei Novartis nicht erst seit diesem Jahr getrübt. Der Druck auf die Medikamentenpreise macht dem Grossunternehmen wie der Konkurrenz zu schaffen.

«Viele haben Angst um ihren Job», erzählt eine Novartis-Mitarbeiterin aus dem Personalwesen.

Das vergangene Jahr gehört für den Pharmakonzern zu den wachstumsschwächsten. Berauschend sind die Zahlen höchstens für die Aktionäre, die von einer höheren Dividende profitieren. Der Nettoumsatz stieg um zwei Prozent und bleibt dabei weiterhin hinter den Umsatzzahlen von 2011 zurück. Das operative Ergebnis nahm gegenüber dem Vorjahr um drei Prozent ab. Um das Unternehmen für die Zukunft zu positionieren, gelte es nun, Prioritäten zu setzen, sagte Jimenez. Die vor Kurzem angekündigte Umstrukturierung sei Teil davon.

Vorige Woche informierte die Novartis, dass sie in Basel 500 Arbeitsplätze streichen will. Gleichzeitig sollen etwa gleich viele neue Stellen entstehen. Nur ein kleiner Teil davon in Basel. Die Gewerkschaften reagierten gewohnheitsmässig empört, die Regierung enttäuscht, aber verständnisvoll, die Belegschaft auf dem Campus gereizt und nervös.

«Viele haben im Moment Angst um ihren Job», erzählt eine Novartis-Mitarbeiterin aus dem Personalwesen. Das Arbeitsklima sei schlecht, der Druck hoch. Wer kann, wechselt zum Konkurrenten Roche, sagt ein abgewanderter Forscher.

Negative Unternehmenskultur

Diese Einschätzung bestätigt ein Blick in die Onlineforen der Stellenbörsen. Viele Besucher kritisieren die Arbeitsbedingungen bei Novartis. Sie schreiben von einer negativen Unternehmenskultur, überforderten Vorgesetzten und Machtspielchen. Beim Konkurrenten Roche fallen die Bewertungen deutlich besser aus. Die Novartis kämpft um ihre Position, und das spüren die Angestellten.

Genährt wird die Unsicherheit durch die kleine Halbwertszeit der Aussagen des Novartis-CEO Jimenez. 2011, als Novartis 270 Forscherstellen in Basel strich und ein erster Schock die Pharmastadt er­fasste, behauptete der frühere Spitzenmanager des Ketchup-Produzenten Heinz in einem Interview mit der «Basler Zeitung», das sei es in der Schweiz vorerst gewesen: «Es wird keine weiteren Verände­rungen geben, es sei denn, die Umstände ändern sich substanziell. Ich wollte sicher sein, dass alle No­vartis-Angestellten wissen: So weit gehen wir mit unseren Kostensenkungen in der Schweiz – aber nicht weiter.»

Novartis bewegt sich nach Westen

Unter der Leitung des Forschungschefs Mark Fishman verlagert Novartis die Forschungsaktivitäten seit einigen Jahren immer mehr in Richtung USA und China. In Schanghai investiert Novartis eine Milliarde Franken in den Aufbau eines neuen Zentrums, um im Wachstumsmarkt China Tritt zu fassen. In Boston wiederum bündelt das Unternehmen die globalen Forschungsaktivitäten.

2002 kaufte Novartis eine alte Süssigkeitenfabrik in Cambridge, Massachusetts, einem Vorort Bostons, und begann mit der Arbeit an einem neuen Forschungszentrum. Mittlerweile arbeiten auf dem Boston Campus 2500 Mitarbeiter, Tendenz steigend. Rundherum hat sich ein regelrechtes Biotech-Biotop entwickelt, bestehend aus Elite-Universitäten und innovativen Start-ups, einer der Haupttreiber für einen weiteren Ausbau des Standorts.

In Basel ist die Euphorie, die der Novartis Campus im St. Johann auslöste, mittlerweile verflogen.

600 Millionen Dollar investiert das Basler Unternehmen über die kommenden Jahre in neue Infrastruktur. Und Boston steht in direkter Konkurrenz zum Basler Campus, auch wenn die Verantwort­lichen das bestreiten: Vergangenes Jahr baute die Firma ein neues Forschungsteam im Bereich der Neurowissenschaften auf – und strich zugleich entsprechende Forscherstellen in Basel.

Angetrieben wird die Entwicklung von einer aggressiven Wirtschaftsförderung. In den letzten fünf Jahren flossen 470 Millionen Dollar staatliche Subventionen in den Life-Sciences-Bereich in und um Boston. Novartis bedankt sich für die Bemühungen mit grosszügigen Investitionen: 2012 überholten die USA die Schweiz als wichtigsten Forschungsstandort. Rund 3,5 Milliarden Franken steckte der Konzern in Amerika in die Entwicklung neuer Wirkstoffe, in der Schweiz waren es 3,3 Milliarden.

In Basel ist die Euphorie, die der Novartis Campus im St. Johann auslöste, mittlerweile verflogen. Nach einem der regelmässigen Arbeitsessen zwischen der Basler Regierung und Industrievertretern im letzten Sommer kam es zu hektischen Ak­tivitäten im Bau- und Präsidialdepartement. Das ehrgeizige Stadtentwicklungsprojekt im Rhein­hafen sollte unter anderem im grossen Stil und mit beeindruckender Skyline hochpreisige Wohnungen für immer noch mehr Expats bieten. Schliesslich hatte Novartis versprochen, alleine auf dem Campus über 13 000 neue Stellen zu schaffen.

Ausbau des Campus gerät ins Stocken

Dem Vernehmen nach riet Novartis der Regierung, nichts zu überstürzen, weil neuer Wohn- und Geschäftsraum im Moment nicht zwingend seien. Die bisherigen Pläne für die Klybeckinsel fielen mehr oder weniger unter den Tisch. Plötzlich konzentrierten sich die Stadtentwickler vorwiegend auf den Ausbau der Hafeninfrastruktur beim Terminal Nord und versuchen nun, den Bund zur Finanzierung zu bewegen. Die Redimensionierung von «Rheinhattan» ist auch Folge von den geschmälerten Wachstumsaussichten im St. Johann.

Der ehemalige Novartis-Chef Daniel Vasella trieb den Ausbau des Hauptsitzes entschieden voran. Kritiker warfen ihm vor, er setze sich damit selber ein Denkmal. Einen Campus Plus für 13 000 Mitarbeiter wollte er schaffen.

Sein Nachfolger Joe Jimenez verfolgt andere Pläne. Er habe Vasella seit einem Jahr nicht mehr gesehen, sagte er an der Jahrespressekonferenz gegenüber den Medien. Jimenez hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt angekündigt, die Ausgaben für den Campus über mehrere Jahre zu glätten. Offiziell spricht man bei Novartis noch von einem Campus für 10 000 Mitarbeiter. Von den ehrgeizigen Neubauten wurden mehrere zurückgestellt. Darunter ein Bau von Rem Koolhaas an der Rheinfront und zwei Hochhäuser im Westen des Campus.

Baupläne auf Eis gelegt

Für die erste Bauphase hatte das Unternehmen einen Gesamtkredit von 2,2 Milliarden Franken investiert, welcher in diesem Jahr zu Ende geht. Drei Gebäude befinden sich derzeit in Konstruktion. Für die kommenden Jahren hat der Verwaltungsrat bisher erst einem Planungskredit zugestimmt. Zwei Laborgebäude am nordwestlichen Ende des Campus sind in Abklärung.

Ob diese gebaut werden, will Novartis frühestens in zwei Jahren entscheiden. Der Bau von weiteren Gebäuden ist für die kommenden Jahre zurzeit nicht vorgesehen. Doch bis zu den 10 000 angekündigten Arbeitsplätzen ist es noch ein grosser Schritt. Derzeit arbeiten auf dem Campus rund 7400 Personen. Gleich viel wie noch zwei Jahre zuvor.

Die Forschung wird immer kostspieliger

Die Pharmabranche ist im Umbruch und sieht sich nach neuen Wachstumsmärkten um. Der Ausbau des Hauptsitzes mag vor zehn Jahren eine richtige Entscheidung gewesen sein. Doch die Prioritäten haben sich gewandelt. Für die Zukunft sieht Novartis das grösste Wachstumspotenzial in der Generika-Sparte und in der Augenmedizin. Für die in Basel beheimatete Pharmaceutical Division, sagte Jimenez Ende Januar, rechnet das Unternehmen mit einer weiteren Abflachung.

Die Entwicklung neuer Heilmittel wird immer teurer, wie die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» unlängst aufzeigte (online nicht verfügbar). Für eine Milliarde Forschungsdollar liessen sich 1980 drei Medikamente auf den Markt bringen, im Jahr 2000 war es nur noch ein Arzneimittel – und 2010 musste die Industrie bereits zwei Milliarden Dollar für ein einziges zugelassenes Medikament aufwenden.

Patente laufen aus

Novartis ist davon in besonderem Masse be­troffen. Der Blockbuster Diovan, der 2013 noch 4,4 Milliarden US-Dollar einbrachte, hat den ­Patentschutz verloren, ein Generikum steht kurz vor der Zulassung. Als Nächstes wird eine weitere Ertragssäule, das Krebsmedikament Glivec, die Exklusivität verlieren. Neue Produkte sind zwar in der Pipeline, doch wann diese marktreif und zugelassen sind, ist unsicher. David Kägi, Analyst der Bank J. Safra ­Sarasin, spricht von einer «Herausforderung mit den neuen Produkten, aber es sieht gut aus im Moment, dass Novartis das schaffen könnte».

Kostspielig ist der Effort allemal – in einer Zeit, in der die Medikamentenpreise in vielen Ländern unter Druck geraten. 2010 brach der Pharmamarkt durch die Euro-Krise ein. Und er wird unter dem Spar­zwang der europäischen Regierungen wohl weiterschrumpfen.

Konkurrenz durch billige Generika

Bei der Preisgestaltung gilt: Je höher die Staatsquote an den gesamthaften Gesundheitsausgaben ist, desto besser kann die Pharmaindustrie ihre teuren Originalmedikamente an den kranken Mann bringen. In Europa lag diese Staatsquote bis zur ­Euro-Krise durchschnittlich bei über 70 Prozent. Doch die kränkelnden Euro-Länder sind nun zusehends dabei, ihre Staatsquote zu senken – als Folge davon wird die Bevölkerung vermehrt auf billigere Generika umsteigen müssen.

Kein Wunder, entstehen die versprochenen neuen Stellen in der Pharma, wenn überhaupt, vor ­allem bei der Novartis-Tochter Sandoz – in der Generikaproduktion.

Novartis hat den globalen Trend verpasst

Die anderen grossen Pharmakonzerne haben auf die Entwicklung bereits reagiert. Roche – um nur ein Beispiel zu nennen – konzentriert sich schon lange auf neue Absatzmärkte. In Europa erwirtschaftet der Urbasler Konzern nur noch gerade 22 Prozent des Umsatzes. Vor der Euro-Krise waren es auch nur 28 Prozent. Der Rest verteilt sich hälftig auf die USA und Schwellenländer wie Indien, China und Brasilien.

Bei den übrigen Branchenleadern lesen sich die Zahlen ähnlich. Mit Ausnahme von Novartis: Vor der ­Euro-Krise erwirtschaftete der Konzern fast die Hälfte, heute immer noch mehr als einen Drittel seines Umsatzes in Europa. Entsprechend ist die ­Novartis-Aktie deutlich stärker unter Druck geraten als die Wertpapiere der Konkurrenz. Die Aktionäre murren über die hohen Produktionskosten in Basel und die schlechten Absätze in Europa. Die Geschäftsleitung steht unter Druck, eine bessere Rendite zu erzielen.

Es locken die USA

Und die lockt in den USA. Hier sind die Löhne tief, die Gesetze lasch, und die Infrastruktur und die räumliche Nähe zu den Wachstumsländern sind ­hervorragend. In den USA liegt die Staats­quote (vor Obama-Care) zwar nur bei 48 Prozent. Dass diese aber deutlich steigen wird, liegt nicht nur am neuen Krankenversicherungsgesetz der Demokraten. Noch unter republikanischer Herrschaft hat die Pharma­lobby in den US-Parlamenten ein neues Gesetz durchgebracht, das den Staat verpflichtet, lebensrettende Medikamente zu subventionieren.

Die globalen Verschiebungen sind im Gang, und einiges deutet darauf hin, dass Basel nicht zu den Gewinnern dieser Entwicklung zählen könnte. Es gibt aber auch Stimmen, die optimistisch sind. ­Elmar Sieber etwa, Healthcare-Analyst der Basler Kantonalbank, glaubt, dass der Campus im St. Johann nach wie vor interessant ist: «Für Novartis lohnt es sich weiterhin, in Basel zu investieren. ­Gerade die Lage Basels an der Grenze zu Deutschland und Frankreich macht es für Novartis attraktiv, hier zu investieren, weil auch Fachkräfte aus den umliegenden Ländern rekrutiert werden können.»

Aber die Zeiten der chemiefinanzierten grossen städtebaulichen Visionen sind wohl vorbei. Einmal mehr sehen sich Stadt und Region dem massiven Klumpenrisiko, der Abhängigkeit von der Pharmaindustrie, ausgesetzt. Insbesondere, nachdem in der Region praktisch alle anderen Produktionsstätten – zum Beispiel in der Schienenfahrzeug- und der Metallindustrie – geschliffen wurden.

Fatale Abhängigkeit

Wie bedeutsam die Branche für Basel ist, bekräftigt ein Blick in die Statistik. In der Pharmaindustrie ­waren 2011 in Basel-Stadt 16’800 Beschäftigte angestellt, 10’470 alleine bei Novartis. Eine beachtliche Zahl. Ein Rückzug der Pharma hätte fatale Auswirkungen. Das Forschungsinstitut BAK Basel beziffert die Zahl der Angestellten, die indirekt von der Pharma abhängen, in der Region auf das Vierfache.

Grund zu Besorgnis besteht: In Branchenkreisen machen derzeit Gerüchte die Runde, bei Novartis könnten in der Region in den kommenden Jahren viele weitere Stellen verschwinden.

Ein ehemaliger Forscher, der sich mittlerweile selbstständig gemacht hat und mit einem Spin-off an der Entwicklung eines Wirkstoffs mit Novartis zusammenarbeitet, teilt diese Befürchtungen. Seine Gegenüber bei Novartis gingen davon aus, dass sie und viele andere Forscher schon bald nicht mehr in Basel arbeiten würden. Das gemeinsame Projekt wurde bis auf weitere Zeit sistiert.
Es könnten unruhige Zeiten werden in Basel, jener Stadt, die sich mit Leib und Seele der Pharma­industrie verschrieben hat.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 31.01.14

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