Das Schweizer Arbeitsgesetz gilt als ziemlich liberal. Bis auf eine Ausnahme: die Erfassung der Arbeitszeit. Im Bankenbereich wird nun über ein System diskutiert, das auch für andere Branchen wegweisend sein könnte. Die Arbeitnehmerverbände sind besorgt. Sie befürchten, dass die Angestellten bald mehr Überstunden leisten müssen, was ihrer Gesundheit schadet.
Wie können die Arbeitnehmer davor geschützt werden, dass sie zu viel arbeiten? Mit einer möglichst genauen Festlegung der Arbeitszeiten, mit einer strengen Erfassung und scharfen Kontrolle? Oder ist das nicht mehr zeitgemäss in einer Arbeitswelt, in der das Büro auch unterwegs häufig dabei ist, auf dem Smartphone oder i-Pad? In einer Welt auch, in der die Heimarbeit wieder einmal propagiert wird – diesmal unter dem etwas moderneren Begriff «Home-Office».
Solche grundsätzliche Fragen werden in der Schweiz derzeit neu verhandelt, in intensiven und teilweise ziemlich kontroversen Gesprächen zwischen dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco, dem Arbeitgeberverband der Banken, dem Bankpersonalverband, dem Kaufmännischen Verband Schweiz und kantonalen Kontrolleuren. Dabei drängt die Zeit. Eigentlich hoffte man im Bankwesen, anfangs 2012 eine neue Arbeitszeiterfassung einführen zu können. Gleichzeitig sollte dieses System auch auf andere Branchen übertragen werden. Doch nun ist man in den Verhandlungen unter der Leitung des Seco auch einige wenige Tage vor Jahresende noch weit von einer Einigung entfernt. An eine Lösung, die anfangs 2012 umgesetzt werden können, glaubt in den Banken und Arbeitnehmerverbänden niemand mehr.
Stundenerfassung sei veraltet
Im Zentrum der Diskussionen steht Artikel 73 der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz. Darin ist unter anderem festgelegt, dass die geleistete Arbeitszeit Tag für Tag genau erfasst werden muss – inklusive Arbeitsbeginn, Pausen von mehr als einer halben Stunden und Arbeitsschluss. Es ist eine Bestimmung, die veraltet ist. Diese Meinung vertritt zumindest Balz Stückelberger, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes der Banken in der Schweiz. «Moderne Arbeitsmodelle haben nichts mehr mit Fliessbandarbeit zu tun, die minutengenau erfasst und kontrolliert werden konnte», sagt er.
Wann und wo gearbeitet werde, sei in vielen Berufen nicht mehr entscheidend. «Der moderne Mitarbeiter wird über ein Ziel geführt, das er zusammen mit dem Arbeitgeber definiert und danach möglichst selbstständig erreicht», sagt Stückelberger. Dabei könne er an einem Tag im Büro tätig werden und am nächsten im Home-Office, mal etwas länger arbeiten als die vorgesehenen 8,4 Stunden pro Tag und mal etwas früher Feierabend machen, ganz so, wie es für ihn und seinen Job am besten ist. «So macht Arbeit doch sehr viel mehr Spass, als zu fest vorgegeben Zeiten bereit zu stehen und auf den nächsten Befehl zu warten», sagt Stückelberger. Im Gegensatz zur Arbeit am Förderband könnten die flexiblen Arbeitsmodelle aber nicht mehr Minute für Minute erfasst werden: «Das geht nur mit einer Stechuhr.»
Die Angst um die Gesundheit der Angestellten
Eine ganz andere Haltung vertritt Denise Chervet, Zentralsekretärin des Schweizerischen Bankpersonalverbandes. «In einer Bank wird jeder Vorgang ganz genau erfasst und kontrolliert. Dann ist es auch möglich, die Arbeitszeit ganz genau aufzunehmen», sagt sie. Das gelte heutzutage aber als bürokratisch. Dabei sei ein Arbeitszeitmanagement nötig: «Wer keinen Überblick über die eigene Arbeitszeit hat, läuft Gefahr, die Work-Life-Balance zu verlieren. Darunter kann auch die Gesundheit leiden.» Davon profitiere niemand, weder die Arbeitnehmer, noch die Arbeitgeber.
Doch selbst wenn Artikel 73 mit der Forderung nach einer ganz genauen Arbeitszeiterfassung sinnvoll sein sollte: in vielen Unternehmen ist die Vorschrift nur noch graue Theorie. Statistisch breit abgestütze Erhebungen gibt es zwar nicht, die NZZ zum Beispiel geht davon aus, dass in der Schweiz bis zu 30 Prozent der Angestellten ohne genaue Zeiterfassung arbeiten. In einzelnen Branchen wie dem Banken- und Versicherungswesen oder dem Medienbereich ist diese Quote zudem noch deutlich höher. Darum entschlossen sich die Banken-Verbände und das Seco, gemeinsam ein neues System zu testen, das flexible Arbeitsmodelle zulässt und gleichzeitig den Arbeitnehmerschutz garantiert. Das Pilotprojekt lief von anfangs 2010 bis Mitte 2011. In dieser Phase musste die Arbeitszeit nicht mehr generell erfasst werden, sondern nur noch bei angeordneten Überstunden, bei mehr als elf Arbeitsstunden an einem Tag, bei über 50 Mehrstunden in einem Jahr oder der Überschreitung der monatlichen Normalarbeitszeit.
Meinungen gehen noch immer auseinander
Über den Erfolg des Pilotprojektes gehen die Meinungen weit auseinander. Die Banken waren sehr zufrieden, das Seco einigermassen, die kantonalen Kontrolleure und der Bankpersonalverband dagegen gar nicht. Die Einhaltung der Arbeitszeiten könne nur kontrolliert werden, wenn diese möglichst genau erfasst werden, sagen die Kritiker weiterhin.
Nun sucht man einen Kompromiss. Eine Möglichkeit wäre, die Lockerung der Arbeitszeiterfassung im Rahmen eines Gesamtarbeitsvertrages (GAV) umzusetzen. Darin könnten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände vereinbaren, dass die Arbeitszeit nicht mehr generell, sondern nur noch bei nennenswerter Überzeit erfasst wird – wobei die Limiten auch tiefer angesetzt werden könnten als im Pilotprojekt. Über diese Details könnte man sich in den Verhandlungen um den GAV noch einigen.
Noch wehren sich aber einerseits die Arbeitgeber aus grundsätzlichen Überlegungen gegen einen GAV-Zwang und andererseits die Arbeitnehmerverbände und kantonale Kontrolleure gegen jegliche Lockerung. Auf den Kompromiss drängt vor allem das Seco. Bis dieser gefunden ist, gelten im Bankenwesen weiterhin die Vorgaben aus der Pilotphase. Eine Übergangsregelung, die eigentlich nur noch bis Ende Jahr gelten sollte, aller Voraussicht nach aber verlängert werden muss.