Nationalbank steckt in der Zwickmühle

Im Spätsommer wurde der Franken so stark wie noch nie und drohte die Schweiz in eine Rezession zu treiben. Am 6. September zog die Nationalbank die Notbremse – und soll nun sogar nachlegen. Dabei kann sie nur Fehler machen.

Im Spätsommer wurde der Franken so stark wie noch nie und drohte die Schweiz in eine Rezession zu treiben. Am 6. September zog die Nationalbank die Notbremse – und soll nun sogar nachlegen. Dabei kann sie nur Fehler machen. 

Am 6. September verkündete die Schweizer Nationalbank (SNB), sie werde den Euro-Kurs nicht mehr unter die Marke von 1.20 Franken sinken lassen. Dieses Ziel wolle sie, so bekräftigte SNB-Präsident Philipp Hildebrand, «mit aller Konsequenz» verfolgen; sie sei bereit, zu diesem Zweck «unbeschränkt» Devisen zu kaufen. Seither bewegt sich der Euro-Kurs dauerhaft zwischen Fr. 1.20 und Fr. 1.26.

Dies war ein währungspolitisch historisches Ereignis. Letztmals hatte die Nationalbank solches vor 33 Jahren unternommen, als sie den Mindestkurs für die Deutsche Mark mit 80 Rappen bezifferte.

Das Los des sicheren Hafens

In beiden Fällen war die Nationalbank damit ­erfolgreich. 1978 startete der DM-Kurs auf über 90 Rappen durch – allerdings mit einer unerwünschten Neben­wirkung: Die Teuerung zog an. Das ist nach der ak­tuellen Intervention noch nicht eingetreten. Es kann aber noch kommen.

Wie stark die Teuerung anzieht, hängt davon ab, wie viele Devisen die Nationalbank tatsächlich vom Finanzmarkt wegkaufen muss, um den Kurs zu stützen. Je mehr neue Franken in Umlauf gesetzt werden, desto grösser wird das Inflationsrisiko – in der Folge der 1978er-Intervention stieg die Teuerungsrate auf über sieben Prozent.

In beiden Fällen handelt es sich um eine Notbremse. Der immer stärker werdende Franken drohte und droht das Wachstum abzuwürgen. Was für die Schweizer Konsumenten im kleinen Grenzverkehr ein Segen ist, ist für die exportorientierte Schweizer Wirtschaft – inklusive des Tourismus – ein Albtraum. Ein vernünftiger Wechselkurs, bei dem die Preise auf beiden Seiten der Grenze für die gleiche Ware etwa gleich wären (Kaufkraftparität), läge wohl irgendwo zwischen Fr. 1.40 und Fr. 1.50. Mit dem Mindestkurs der Nationalbank sind die Produkte von Schweizer Unternehmen im Ausland immer noch um rund 20 Prozent teurer als jene ihrer Konkurrenten.

Begehren werden laut

Kein Wunder, fordern Firmen, Wirtschaftsverbände, aber auch Gewerkschaften und Politiker von links bis rechts, dass die SNB den Mindestkurs weiter anhebt: Die Wünsche reichen von Fr. 1.25 bis Fr. 1.40 pro Euro. Bislang sperrt sich die SNB gegen dieses Ansinnen. Noch schätzt sie das Inflationsrisiko als gravierender ein als jenes einer lang anhaltenden Rezession, verbunden mit steigender Arbeitslosigkeit.

Das ist alles andere als ein neues Problem. Der immer mal wieder zu starke Franken beschäftigt die Schweizer Wirtschaft seit vielen Jahrzehnten. Ältere Mitbürger erinnern sich: Ein Dollar kostete einst Fr. 4.32, ein britisches Pfund über zehn Franken, ein Euro … nun ja, den gab es 1971/72 noch nicht. Das war in der Zeit fester Wechselkurse. 1973 brach dieses System auseinander, weil die Amerikaner ihre Zahlungsbilanz- und Schuldenprobleme «lösten», indem sie den Rest der Welt mit Dollars fluteten. Bis den Notenbanken, allen voran der schweizerischen, der Kragen platzte und sie sich schlicht weigerten, weiterhin Dollars entgegenzunehmen. Seither sind die Wechselkurse flexibel. Dollar und Pfund befanden sich vorübergehend im freien Fall. Zu den stärksten Währungen zählte seither der Franken. Bis der Euro kam.

Währungskraftprotz Euro

Der wurde im Januar 1999 virtuell, im Januar 2002 auch in Form von Noten und Münzen eingeführt, und war zunächst ebenfalls ein Währungskraftprotz, sogar gegenüber dem Franken. 2007 kostete 1 Euro Fr. 1.68. In dieser Zeit und bis ins Jahr 2009 profitierte die Schweizer Wirtschaft von ­einem tendenziell unterbewerteten Franken.

Das heisst: Schweizer Exporte in den Euro-Raum waren im Vergleich zu den Konkurrenten eher zu billig. Der Schweizer Exportboom im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends beruht also zum Teil auf den gleichen Währungsmechanismen wie die heutige Exportflaute – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Das sollte man bei allem Jammern über den zu teuren Franken nicht ganz aus dem Auge verlieren: Vor knapp vier Jahren war der Franken für die Konkurrenten im Euro-Raum noch «zu billig».

Dennoch: Die Schweizer Nationalbank steht vor einer unmöglichen Wahl. Soll sie sich weiterhin wie in der Franken-Hausse 1978 verhalten und den Mindestkurs in Richtung Kauf­kraft­parität erhöhen? Oder soll sie wie in der Franken-Hausse 1995 aus Angst vor der drohenden Inflation nichts mehr unternehmen und dafür wie damals eine Rezession riskieren?

Die Schweiz ist zu erfolgreich

«Wir könnten den Fehler von 1978 wiederholen – oder den Fehler von 1995», sagt der Zürcher Banken-Professor Urs Birchler in einem Aufsatz in der «Zeit», der unter dem Titel «Fluch des Segens» kurz vor dem absoluten Höchststand des Frankens gegenüber dem Euro (Fr. 1.007, am 9. August) ­publiziert wurde.

Der Titel trifft das eigentliche, das strukturelle Problem sehr genau. Die Schweiz ist zu erfolgreich: Das stabile politische System, in dem die föderalen Strukturen für die Bodenhaftung der Politiker sorgen, das Bewusstsein, dass Minderheiten gebührend zu berücksichtigen sind, die sozusagen bäuerliche Erfahrung, dass man nur ­ernten kann, was man zuvor gesät hat, die Mentalität des braven Bürgers, nicht mehr auszugeben, als man ein­genommen hat, die Zuversicht, dass die Mitbürger auch so denken, man sich also auf Abmachungen verlassen kann – das sind die Bausteine, aus ­denen die Erfolgsstory der Schweiz ­besteht. Dem Land geht es wirtschaftlich gut, weil seine Bürger fleissig, sparsam und zuverlässig sind. Das ist ein Segen.

Der Fluch ist, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Die gleichen Faktoren, vor allem die Zuverlässigkeit und die Rechtssicherheit, machen neben einigen Steuervorteilen die Schweiz auch für Ausländer attraktiv – und bei ­jedem Umsturz und jeder Krise irgendwo auf der Welt zum sicheren Hafen für ihre Vermögen.

Das bringt der Schweiz günstiges Geld, unter anderem für die Finanzierung des Wohlfahrtsstaats. Aber es treibt eben auch den Frankenkurs in die Höhe – zuweilen bis zur Schmerzgrenze, ab der das wirtschaftliche Wachstum gefährdet wird.

Das Los des sicheren Hafens

Aus der Zwickmühle, in der sich die ­Nationalbank befindet, gibt es fast kein Entrinnen. Schliesslich sitzt die Schweiz, um abermals ein Bild von Urs Birchler zu zitieren, währungsmässig im gleichen Boot wie der Elefant USA und der Stier Europa. Wenn der Elefant unruhig wird oder der Stier verrückt spielt, dann wackelt das Boot und droht zu kentern. Da hilft weder ein Elefantendompteur noch ein Torero. Dagegen ist kein Kraut gewachsen, schon gar kein schweizerisches.

Dennoch muss die Nationalbank gerade in solchen Situationen handeln. Das Problem ist nur: Wenn die grossen Währungen ins Trudeln geraten, wird der sichere Hafen immer häufiger angesteuert. Der Franken-Kurs steigt und steigt – völlig losgelöst von den ­realen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Heute sind die USA das höchst verschuldete Land der Welt (die Probleme Griechenlands sind im Vergleich dazu «peanuts»), grosse europäische Länder wanken und mit ihnen der Euro. Unter diesen Umständen kann die Nationalbank den Währungsdampfer Schweiz nicht einmal mehr dann auf dem richtigen Kurs halten, wenn sie wirklich wüsste, wo der durchgeht.

Wahrlich, die Schweizer Nationalbank und ihre Lenker sind nicht zu ­beneiden. In Zeiten grosser und wachsender Unsicherheit müssen sie über Massnahmen entscheiden, die unser aller Wohlergehen in den nächsten paar Jahren beeinflussen. Was immer die Nationalbanker entscheiden, kann sich als Fehler herausstellen. Nur eines ist ganz sicher: Sie werden schuld sein – woran auch immer.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30/12/11

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