Nicht nur Löhne sind ungerecht verteilt

Die Gewerkschaften fordern höhere Mindestlöhne. Dabei verlieren sie den Verteilungskampf an einer anderen Front: Die Armen kriegen immer weniger Arbeitszeit. Die Reichen immer mehr.

Je höher die berufliche Stellung, desto gesegneter ist der Arbeitnehmer mit Arbeitsstunden. (Bild: Bilderberg)

Die Gewerkschaften fordern höhere Mindestlöhne. Dabei verlieren sie den Verteilungskampf an einer anderen Front: Die Armen kriegen immer weniger Arbeitszeit. Die Reichen immer mehr.

Die Löhne mögen steigen, aber die Arbeitszeit nimmt ständig ab. 1968 arbeitete ein durchschnittlicher Schweizer Arbeitnehmer 1989 Stunden im Jahr. Heute sind es nur noch 1642 Stunden. Hätten die Arbeitslosen auch einen Job, wären es gar nur 1590 Stunden, und ohne die Exportüberschüsse, die wir damals noch nicht hatten, würden 1472 Jahresstunden genügen, um alles herzustellen, was wir verbrauchen. Die 1472 Stunden entsprechen etwa einer 32-Stunden-Woche bei 6 Wochen Ferien. Die offizielle Arbeitszeit liegt aber im Schnitt aller Branchen immer noch bei 41,6 Stunden, nicht einmal drei Stunden weniger als 1968.

27 Stunden würden genügen

Die Schweiz ist in dieser Beziehung keine Ausnahme. In allen Industrieländern sinken die effektiven durchschnittlichen Arbeitszeiten deutlich schneller als die offiziellen. Deutschland etwa ist inzwischen faktisch bei einer 27-Stunden-Woche angelangt. 27 Wochenstunden für alle Arbeitswilligen würden dort genügen, um den eigenen Bedarf zu decken.

Doch statt die Arbeitszeiten zu verkürzen, wollen die Arbeitgeber noch mehr arbeiten lassen, und die Politiker unterstützen sie dabei. Es gehe darum, im globalen Standortwettbewerb bestehen und mit den fleissigen, hart arbeitenden Chinesen mithalten zu können. Deshalb will die EU das Pensionierungsalter auf 67 erhöhen. Begründet wird das auch mit der steigenden Lebenserwartung. Das ist zwar richtig, aber unerheblich.

Produktivität ist nämlich in der Vergangenheit immer schneller gewachsen als der Konsum. Genau deshalb sinken die Arbeitszeiten trotz der steigenden Lebenserwartung. Bei einem Rentenalter 67 würde in Deutschland sogar eine 25- und in der Schweiz eine 30-Stunden-Woche genügen, um sämtliche materiellen Bedürfnisse zu befriedigen.

Doch das ist schöne Theorie. Die unschöne Praxis ist eine Dreiteilung des Arbeitsmarktes, die in Deutschland so aussieht: 2287 jährliche Arbeitsstunden für die reichsten 20 Prozent der Arbeitskräfte, 886 Stunden für das ärmste Fünftel und null Stunden für die rund 8 Prozent gemeldeten und ungemeldeten Arbeitslosen. Das war gemäss einer Studie der OECD der Stand anno 2004. Aufschlussreich – und leider typisch für die meisten Industrieländer – ist auch die Entwicklung in den vorangegangenen 20 Jahren. Das reichste Fünftel hat zwei Prozent Arbeitszeit gewonnen. Das ärmste hat auf seinem ohnehin tiefen Niveau 12 Prozent verloren.

Es sieht also ganz so aus, als habe die steigende Diskrepanz zwischen der vertraglichen Normarbeitszeit und den effektiven Arbeitszeiten zu einem Klassenkampf um Arbeitszeiten geführt. In Deutschland, Holland und Italien fiel die Umverteilung zugunsten der Reichen besonders brutal aus, weil das ärmste Fünftel auch noch sinkende Stundenlöhne verkraften musste.

Bruttolöhne, Nettolöhne

Es gab aber auch Gegenbeispiele wie Frankreich, wo sich Einbussen in etwa die Waage hielten und wo die Löhne des unteren Fünftels prozentual gesehen sogar schneller gestiegen sind als die der einkommensstärksten 20 Prozent.Mangels Daten kommt die Schweiz in der erwähnten OECD-Studie nicht vor. Mit ein wenig Detektivarbeit kommt man auch zum Ziel. Es gibt in der Schweiz zwei unterschiedliche Statistiken über die Verteilung der Löhne.

Die Bruttolohnstatistik rechnet alle Löhne auf eine genau definierte Vollzeitbeschäftigung hoch und unterteilt die so errechneten Löhne in zehn Gruppen. Von den ärmsten bis zu den reichsten 10 Prozent der Arbeitnehmer. Die weniger bekannte Nettolohnstatistik betrachtet die effektiv ausbezahlten monatlichen Löhne, egal wie viel gearbeitet worden ist, und unterteilt diese Löhne in die erwähnten zehn Einkommensklassen.

Die Unterschiede sind frappant: Gemäss der Bruttolohnstatistik sind die Reallöhne des ärmsten Zehntels zwischen 1998 und 2000 um 6,3 Prozent gestiegen. Gemäss der Nettolohnstatistik sind sie jedoch um 30 Prozent gesunken.

Ein Teil der Arbeitszeitverkürzung ist sicher freiwillig. Doppelverdiener teilen sich die Haus- und Erwerbsarbeit auf, ältere Arbeitnehmer treten kürzer, jüngere brauchen Zeit, um nebenbei noch eine Ausbildung zu absolvieren. Die Tatsache aber, dass gerade schlechter verdienende, die das Geld besonders bräuchten, immer weniger arbeiten, deutet darauf hin, dass die Nachfrage nach bezahlter Arbeit grösser ist als das Angebot.

Hier gewonnen, da verloren

Den Schweizer Gewerkschaften ist es offenbar gelungen, die Stundenlöhne der ärmsten Arbeitnehmer zu verteidigen oder gar zu steigern. Die Statistik der Bruttolöhne zeigt das. Der hohe Einkommensverlust, den die Statistik der Nettolöhne ausweist, ist also offenbar die Folge eines massiv sinkenden Arbeitsvolumens. Was die Gewerkschaften an der Lohnfront gewonnen haben, ist im Verteilungskampf um die Arbeitsvolumen mehrfach verloren gegangen.

Das gilt nicht nur für die Schweiz und das ist auch nicht bloss ein Problem für die Gewerkschaften, sondern für die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft. Die politische Unfähigkeit, die gesetzlichen Arbeitszeiten dem tatsächlichen Arbeitsvolumen anzupassen, schafft ein Überangebot an Arbeit, drückt das allgemeine Lohnniveau zugunsten der Gewinne und treibt einen Keil in die Gesellschaft.

Bisher haben sich die Gewerkschaften geweigert, nur schon eine 35-Stunden-Woche in ihren Forderungskatalog aufzunehmen. Ihre Begründung: Viele Mitglieder der Gewerkschaften kommen schon mit einer 42-Stunden-Woche nicht über die Runden.

Doch dieses Argument zielt immer mehr an der Realität vorbei. Wer jetzt noch an der 40-Stunden-Woche festhält, zementiert eine Dreiklassen­gesellschaft von Arbeitslosen, schlecht bezahlten Unterbeschäftigten und überarbeiteten «Leistungsträgern». Das ist nicht nur schlecht für die Wirtschaft, es ruiniert auch die Volksgesundheit.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20/01/12

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